Tantra, das Feuer meiner Passion. Wera Münchberg
Ärger!“ Ihre Worte habe ich heute noch im Ohr.
Oh ja, Wera wollte so gerne einmal in der Rhön fliegen, was wir natürlich auch heimlich taten. Die Theorie hatte ich immer mitbekommen, wenn er zu Hause für die Flug-Scheine lernte und ich ihn abgefragte. Die Praxis habe ich fast jedes Wochenende erleben dürfen.
Eines Tages war es soweit, auf der Wasserkuppe/Rhön mein Vater befestigte den Drachen an eine sehr lange Schnur. Ich sprang und hob ab. Dieses Schweben in der Luft war ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit und Glück. Es waren nur wenige Minuten, die sich aber wie Stunden anfühlten. Ich bekam so schnell Aufwind, dass mein Vater das Seil verlor und ich nun ganz allein war. Ein mulmiges Gefühl machte sich breit. Ich zog das Trapez langsam an mich heran und leitete dadurch den Sinkflug ein. Vielleicht einen Tick zu schnell, denn ich stürzte senkrecht ab und verfehlte knapp einen Felsen. Ich blieb liegen, ohne mich zur rühren und hoffte nur, dass ich nichts kaputt gemacht hatte.
Aus der Ferne hörte ich meinen Vater wild schreien. Er kam hektisch winkend zu mir gerannt. Jetzt bewegte ich mich, erhob mich schwerfällig und sah meinen Vater an, der sichtlich erleichtert war, dass es mir einigermaßen gut ging. Sein Drachen war ihm in diesem Moment auch egal. Von dieser Aktion haben wir Mutter erst einige Jahre später erzählt. Und ein einziges Foto gibt es auch davon. Es sieht schon sehr komisch aus.
Einmal war er verbotener Weise in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens mit seinem Drachen geflogen. Gesprungen war er vom Monte Scherbelino, einem Berg im Frankfurter Stadtwald. Ich glaube, er bekam eine Strafe und es stand am nächsten Tag in der Bildzeitung.
So einen Vater hat nicht jedes Kind. Ich war mächtig stolz auf ihn.
Mein Vater kannte auch viele Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, wie unseren Ex-Bundeskanzler Schröder oder Fritz Rau, den Konzertmanager. Der einen Probesaal für Udo Lindenberg suchte, um seinem bevorstehenden Konzert in der Festhalle Frankfurt, üben zu können. So habe ich ihn kennenlernen dürfen, ein schönes Erlebnis.
Mein Vater verstand sich mit Udo auf Anhieb. Sie blödelten herum und kamen dabei auf die Wettidee, 50 Liegestütze zu machen. Wer näher ran kommt hätte gewonnen.
Udo war locker 24 Jahre jünger, mein Vater dagegen sehr sportlich. Sie schnauften und gaben beide alles, während Udos Band und wir die beiden anfeuerten. Udo schaffte 35 Liegestütze und machte dann schlapp. Mein Vater machte die 50 voll.
Tja, mein Vater eben. Wenn die gewusst hätten, was er noch so drauf hat. Bei Events wie Hochzeiten oder Tanzveranstaltungen tanzte er bis zu einer halben Stunde auf den Händen und schmiss so jede Party. Udo lud uns, meinem Bruder und mich ein, während des Konzerts als Statisten mit auf die Bühne zu kommen. Ein echtes Highlight. Die Festhalle kochte. Udo sprang wild auf der Bühne herum, der Boden bebte und wir waren mitten drin. Welch eine Show.
Mit unseren Vater konnten wir viele aufregende Sachen erleben. Ich erinnere mich als er sich zu seinem 50. Geburtstag eine Reise zur Drachenflugweltmeisterschaft nach Hawaii schenkte. Beim Zwischenstopp in LA wollte er einen seiner Träume erfüllen: einmal verbotenerweise mit seinem Drachen über die Golden Gate Bridge zu fliegen. Er war eben ein Abenteurer. Am Landeplatz warteten die Freunde, packten Horst und Drachen ins Auto und nix wie weg – da hörten sie schon die Sirenen der Polizei. Dann gewann er auch noch die Weltmeisterschaft in Hawaii, na ja da war er auch der einzige in seiner Altersklasse! Alle anderen Teilnehmer waren locker 20-30 Jahre jünger.
Das schönste Erlebnis mit meinem Vater war im Skiurlaub in der Nähe vom Schloss Neuschwanstein. Ich war dort mit einer internationalen Austauschgruppe mit ca. 25 Leuten aus ganz Europa zum Skifahren. Tagsüber Skifahren und abends Party. Eines Abends, ich saß in der Runde und war am flirten mit einem Holländer, als ein Fremder in den Partyraum eintrat.
Alle schauten zu ihm, er nahm mich an der Hand und forderte mich zum Tanz auf. Ich war so sprachlos und alle schauten uns zu. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder schimpfen sollte, denn der Fremde war mein Vater. Einmal ohne Eltern Urlaub machen und er hatte richtig Spaß daran, so zu tun, als wäre er mein Freund. Man konnte es auch glauben, denn er sah super gut aus für sein Alter und wirkte locker 15 Jahre jünger, er war zu der Zeit 55 Jahre alt. Als ich mich wieder zu meinen Freunden setzte und sie aufklärte, waren sie erstaunt, dass ich so einen tollen Vater habe. Wir feierten alle bis in die tiefe Nacht hinein.
Am nächsten Morgen fuhren wir alle Ski und hatten eine tolle Aussicht auf das Schloss Neuschwanstein. Als wir wieder auf dem Berg waren, stand da plötzlich mein Vater mit Ski und seinem Drachen. Er wollte doch tatsächlich hier fliegen und auf den Ski landen. Er hatte nur kurz zuvor den Schneepflug gelernt, also er war totaler Anfänger im Skifahren. Was war das für ein wundervoller Anblick, mein Vater in der Luft Richtung Schloss Neuschwanstein, dass er umflog und unten auf einem Platz landete, wo wir uns danach alle trafen.
Später, als ich während meiner Ausbildung meinen ersten Urlaub in Tunesien verbrachte, las ich in der Bildzeitung, dass ein deutscher Drachenflieger namens Horst Sauer in Österreich in den Alpen abgestürzt sei. Es klang so dramatisch, dass ich annahm, das er tot sei. Ich rief sofort zu Hause an, aber er lag zum Glück nur mit gebrochenem Bein im Krankenhaus. Dieser Verrückte!
Inzwischen hatte sich meine Mutter von ihm getrennt und war in ihre Heimatstadt Berlin zurückgekehrt. Dort lebte auch ihre beste Freundin Christin, die sie seit 1975 kannte und die sich im evangelischen Feriendorf Mauloff im Hintertaunus kennengelernt hatten. Beide ließen sich auf eine Warteliste setzen, viele Jahre vor ihrer Rente für das Seniorenheim Johannis Stift im Spandauer Wald. Die Liste war lang und sehr begehrt, denn das Stift hat eine besondere Lage mitten im Wald, eine Oase in Berlin-Spandau. Beide hatten später auch noch das Glück, dass sie nur wenige Meter auseinander in den Wohneinheiten leben durften, bis heute. Mein Vater zog meine noch minderjährigen Geschwister auf. Ich hatte meine Ausbildung beendet, machte meinen Führerschein und fuhr oft nach Hause, um mich auch um meinen Bruder und meine Schwester zu kümmern.
Jahre später, nach dem Mauerfall, Deutschland war vereint und mein Vater war gerade Rentner geworden. War er einer der Ersten, die rübergingen, während die meisten ehemaligen DDR-Bürger zu uns in den Westen kamen. Er zog nach Laucha bei Naumburg, um sich den Traum einer Drachenflugschule zu erfüllen. Er lernte in kürzester Zeit die Menschen aus der Umgebung kennen und die ihn und waren begeistert von der Idee. Er organisierte viele Veranstaltungen rund ums Fliegen und es kamen Begeisterte aus ganz Deutschland dort hin. Bei Laucha fand er einen stillgelegten Flughafen der FDJ (davor der HJ). Dort entstand, Dank meines Vaters, ein Drachenflug-Domizil und Treffpunkt vieler Flieger. Er lernte auch eine neue Frau kennen. Ich war damals so empört, da sie 28 Jahre alt war und er 65 Jahre.
Und kurz darauf sollten wir ein neues Geschwisterchen bekommen. Meine, unsere Halbschwester Mandy, ist heute erwachsen und hat inzwischen auch schon eine eigene Familie.
Mein Vater erreichte im Bezirk Naumburg in kürzester Zeit einen gewissen Bekanntheitsgrad, da er den Menschen half mit den Anträgen und dem Formularwahnsinn zurechtzukommen. Er organisierte einen Malkreis in seinem Haus, wofür er eigens eine Galerie geschaffen hatte.
Seine Bilder wurden sogar in der Bank von Naumburg ausgestellt. Dort veranstaltete er auch Vernissagen für den Malkreis. Seine Frau trennte sich vor einigen Jahren von ihm und er flog seitdem immer weiter. Bis vor 12 Jahren, als er mehrmals und recht kurz hintereinander abstürzte.
Er sah und hörte zunehmend schlechter, rauchte aber in der Luft noch sein geliebtes Pfeifchen und einen Getränkehalter hatte er auch am Trapez angebracht. Er hatte an seinem Trapez, die soggenante Lenkstange des Drachens, sich eine echte Luxus Komfort Zone eingerichtet. Einen Dosenhalter und einen Halter für seine Pfeife und für alle wichtigen Utensilien, um die auch in höheren Gefilden zu stopfen und zu rauchen, so kannte man ihn.
Es sollte ihm in der Luft an nichts fehlen.
Er flog bis ins hohe Alter, ich meine wirklich hohes Alter. Die Rettungsleute kannten ihn längst, ebenso die umliegenden Krankenhäuser.
Mit 83 hatte er im Flug über seinen Lieblingsberg einen Herzinfarkt, er kam ins Krankenhaus und kurz darauf war er wieder am Himmel zu sehen. Nach dem 2. Herzanfall entzog man ihm dann die Fluglizenz, was ihn aber nicht abhielt, weiter zu fliegen.