Teppiche. Clemens von Alexandria
26.
1. Dann fügt er den ganz allgemeinen Satz hinzu: „Und jedem, der in seinem Herzen verständig ist, habe ich Verstand gegeben“,122 das heißt jedem, der fähig ist, ihn mit Arbeit und Übung aufzunehmen. Und wiederum ist im Namen des Herrn ausdrücklich geschrieben: „Und du rede zu allen, die in ihrem Sinn weise sind, die ich mit dem Geiste des Verstandes erfüllt habe.“123
2. Es besitzen nämlich von Haus aus eine natürliche Begabung „die in ihrem Sinn Weisen“; sie erhalten aber „den Geist des Verstandes“ von der vollgültigsten Weisheit in doppelter Form, nachdem sie sich als geeignet dafür erwiesen haben.
3. Wer nämlich ein Handwerk oder eine Kunst betreibt, darf sich einer hervorragenden Schärfe der Sinne erfreuen, und zwar des Gehörs der gewöhnlich so genannte Musiker, des Tastsinns der Bildhauer, der Stimme der Sänger, des Geruchsinnes der Salbenbereiter, des Gesichts der Künstler, der auf den Siegelringen die Abbildungen eingraviert.
4. Wer sich aber mit der Wissenschaft befaßt, dem wird die geistige Begabung verliehen, vermittelst deren die Dichter die Versmaße, die Prunkredner die Sprache, die Dialektiker die Schlüsse, die Philosophen ihr Lehrgebäude meistern können.
5. Denn die geistige Begabung zeigt ihre Stärke im Erfinden und Ersinnen, indem sie zu überzeugenden Versuchen anregt; den Versuch aber fördert die zum sicheren Wissen führende Übung.
27.
1. Mit Recht hat daher der Apostel die Weisheit Gottes „sehr mannigfaltig“124 genannt; denn sie erweist ihre Macht zu unserer Förderung „vielgestaltig und vielartig“125 durch Kunst, durch Wissenschaft, durch Glauben, durch Weissagung, weil „alle Weisheit vom Herrn stammt und bei ihm ist in Ewigkeit“,126 wie die Weisheit Jesu sagt.
2. „Denn wenn du die Weisheit und den Verstand mit lauter Stimme herbeirufst und nach ihr wie nach Schätzen Silbers suchst und ihr eifrig nachspürst, dann wirst du Gottesfurcht kennenlernen und göttlichen Verstand finden.“127 So hat der Prophet zum Unterschied von dem in der Philosophie zu gewinnenden Verstand gesagt, den zum Zweck des Fortschritts in der Gottesfurcht zu suchen er mit prächtigen und großartigen Ausdrücken lehrt.
3. Ihm hat er also den in der Gottesfurcht zu gewinnenden Verstand entgegengesetzt, wobei er auf die Erkenntnis hindeutete und folgendes sagte: „Denn Gott schenkt aus seinem Munde Weisheit und zugleich Verstand und Klugheit, und er speichert für die Gerechten Hilfe auf.“128 Denn für die von der Philosophie Gerechtfertigten wird als Hilfe auch der zur Gottesfurcht führende Verstand aufgespeichert.
V. Kapitel
28.
1. Nun war vor der Ankunft des Herrn die Philosophie für die Griechen zur Rechtfertigung notwendig; jetzt aber wird sie nützlich für die Gottesfurcht, indem sie eine Art Vorbildung für die ist, die den Glauben durch Beweise gewinnen wollen. „Denn dein Fuß“, so heißt es, „wird nicht anstoßen“,129 wenn du alles Gute, mag es sich bei den Griechen oder bei uns finden, auf die Vorsehung zurückführst.
2. Denn Urheber alles Guten ist Gott; aber bei dem einen wie dem Alten und dem Neuen Testament ist das unmittelbar um seiner selbst willen der Fall; bei dem anderen wie der Philosophie ist es nur eine Folgeerscheinung.130
3. Vielleicht wurde die Philosophie aber auch um ihrer selbst willen den Griechen gegeben zu jener Zeit, bevor der Herr auch die Griechen berufen hatte; denn auch sie erzog das Griechenvolk für Christus wie das Gesetz die Hebräer.131 Demnach bahnt die Philosophie den Weg und bereitet den vor, der von Christus vollendet werden soll.
4. So sagt Salomon: „Schütze die Weisheit wie mit einem Wall, und sie wird dich erhöhen; mit einem prächtigen Kranze wird sie dich schützen wie mit einem Schilde“132 da ja auch du sie für die Sophisten unangreifbar machen wirst, wenn du sie durch die Philosophie und durch berechtigte Prunkentfaltung133 wie mit einem Wall befestigt hast.134
29.
1. Es gibt freilich nur einen einzigen Weg zur Wahrheit, aber in ihn münden wie in einen unversieglichen Strom die Gewässer von allen Seiten ein.
2. Mit göttlicher Weisheit ist daher gesagt: „Höre, mein Sohn, und nimm meine Worte auf“, so heißt es, „damit dir viele Lebenswege zuteil werden. Denn Weisheitswege will ich dich lehren, damit dir die Quellen nicht mangeln“,135 die aus der nämlichen Erde hervorsprudeln.
3. Jedoch hat er nicht nur bei einem einzigen Gerechten von mehreren Heilswegen geredet, er fährt vielmehr etwa folgendermaßen fort, wobei er auf viele andere Wege vieler Gerechter hinweist:136 „Die Wege der Gerechten leuchten gleich dem Licht.“137 Auch die Gebote und die Vorstufen der Bildung dürften ja Wege und Ausgangspunkte für das Leben sein.
4. „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln wie eine Henne ihre Jungen!“138 Jerusalem wird aber mit „Gesicht des Friedens“ übersetzt. Der Herr gibt also in prophetischer Weise zu verstehen, daß die friedlich Schauenden auf mancherlei Art für die Berufung erzogen worden sind.
5.Wie nun? Er wollte, aber er konnte nicht. Wie oft oder wo? Zweimal, durch die Propheten und durch sein Kommen. Als vielgestaltig erweist also die Weisheit der Ausdruck „wie oft“, und in jeder möglichen Gestalt sowohl hinsichtlich der Art und Weise als auch der Zahl der Wiederholungen rettet sie unter allen Umständen einige in der Zeit und in der Ewigkeit. „Denn der Geist des Herrn hat den Erdkreis erfüllt.“139
6. Und wenn jemand den Text vergewaltigt und behauptet, mit den Worten: „Merke nicht auf ein schlechtes Weib; denn Honig träufelt von den Lippen der Dirne“,140 sei die griechische Bildung gemeint, so höre er die folgenden Worte: „und eine Zeitlang ergötzt sie deinen Gaumen“,141 wie es heißt; die Philosophie aber schmeichelt nicht.
7. Wen meint nun die Schrift mit dem Weib, das zur Dirne wurde? Sie sagt es ausdrücklich in den folgenden Versen: „Denn die Füße der Torheit führen die, die sich mit ihr abgeben, mit dem Tode in die Unterwelt; ihre Fußspuren haben keinen festen Stand. Nimm also deinen Weg fern von der törichten Lust; tritt nicht an die Türen ihrer Wohnung, auf daß du nicht andern dein Leben preisgebest.“142
8. Und sie versichert noch dazu: „Dann wirst du es im Alter bereuen, wenn das Fleisch deines Körpers kraftlos geworden ist.“143 Denn dieses ist das Ende der törichten Lust.
9.Und so viel darüber. Wenn die Schrift aber sagt: „Verkehre nicht viel mit einem fremden Weibe!“144 so ermahnt sie damit, die weltliche Weisheit zwar zu verwenden, aber sich nicht anhaltend mit ihr zu beschäftigen und nicht andauernd bei ihr zu verweilen. Denn nur ein auf das Wort des Herrn vorbereitender Unterricht ist in dem enthalten, was zur rechten Zeit jedem Geschlecht zu seinem Nutzen gegeben worden ist.
10. „Denn schon manche haben, von den Reizen der Dienerinnen berückt, die Herrin, die Philosophie, vernachlässigt und sind alt geworden“145 teils in der Musik, teils in der Geometrie, teils in der Grammatik, die meisten aber in der Rhetorik.
30.
1. Wie aber die allgemeinen Wissenschaften Beiträge für ihre Herrin, die Philosophie, liefern, so hilft auch die Philosophie selbst mit zum Erwerb der Weisheit. Denn die Philosophie ist eifrige Beschäftigung mit Weisheit; die Weisheit aber ist die Kenntnis göttlicher und menschlicher Dinge und ihrer Ursachen. Demnach ist die Weisheit Herrin über die Philosophie, so wie diese Herrin über die vorbereitenden Wissenschaften ist.
2. Denn wenn die Philosophie verspricht, die Beherrschung der Zunge, des Bauches und der Teile unter ihm zu lehren, und ihrer selbst wegen erstrebenswert ist, so wird sie noch erhabener und vorzüglicher erscheinen,