Entwicklungspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse. Hermann Staats
dann die Rollen und Funktionen eines fördernden Trainers, eines präsenten feedbackgebenden Gegenübers oder eines neidischen, fördernden, bewundernden oder kritisch missbilligenden Dritten einnehmen.
Entwicklungspsychologie, Sozialisationsforschung, Neurobiologie, Genetik und Entwicklungspsychopathologie wachsen teilweise zu einer neuen Disziplin zusammen, die als »Entwicklungswissenschaft« bezeichnet wird. Es liegt in der Tradition des neugierigen Denkens Freuds, Ergebnisse aus Nachbarwissenschaften aufzugreifen und für ein Verstehen subjektiver seelischer Prozesse zu nutzen. Die Konzepte, auf die sich Therapeutinnen und Therapeuten dabei beziehen, haben Auswirkungen auf ihre jeweilige Behandlungspraxis. Die Vielfalt psychoanalytischer Theorien wird in diesem Buch als eine Bereicherung angesehen – und zugleich mit dem Wissen um die Beschränkung eines einzelnen Ansatzes (und mit Kenntnissen zu seiner Entstehung) verbunden. Vor diesem Hintergrund wird auch auf »Klassiker« der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie zum Weiterlesen hingewiesen. Ziel ist es, dem Leser und der Leserin einen Überblick zu verschaffen, der es ermöglicht, das Gelesene einzuordnen und zu relativieren. Es soll neugierig machen und zum Weiterlesen anregen.
Literatur zur vertiefenden Lektüre
Oerter. R. & Montada, L. (Hrsg.) (2008). Entwicklungspsychologie (6. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Siegler, R., DeLoache, J. & Eisenberg, N. (2005). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. München: Spektrum.
Tyson, P. & Tyson, R.-L. (1990, dt. 2012). Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie (4. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften«
»Entwicklungspsychologie und Psychotherapie, speziell die analytische bzw. tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, haben lange Zeit ein Dasein als ›feindliche Schwestern‹ geführt« (Seiffge-Krenke, 2009, S. VII).
Einführung
Das Bild »feindlicher Schwestern«, das Seiffge-Krenke zum Beschreiben der Beziehung zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie nutzt, weist auf die natürliche Verbundenheit und auf ein – in Phasen der Entwicklung vielleicht notwendiges – Bemühen um Abgrenzung und Unterschiedlichkeit hin.
Aus Sicht eines Psychoanalytikers stellt Bohleber (2011) enttäuscht eine Abnahme des Interesses der Psychoanalyse an entwicklungsspezifischen Fragen fest. Die Entwicklungspsychologie habe sich »zu einer rein empirischen Forschungsrichtung entwickelt, deren Ergebnisse nicht mehr leicht an klinisch-psychoanalytische Konzeptualisierungen zurückzubinden« seien (S. 769). Diese Beschreibung steht im Gegensatz zu dem Erfolg psychoanalytisch ausgerichteter Bücher zur Entwicklung von Kindern (z. B. von Martin Dornes, 1993, [14. Aufl. 2015] »Der kompetenten Säugling«), in denen entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse für eine psychotherapeutisch und pädagogisch interessierten Öffentlichkeit zusammengefasst und diskutiert werden.
Die Bedeutung der Entwicklungspsychologie und der Ergebnisse aus anderen Bezugswissenschaften werden aus verschiedenen Perspektiven der Psychoanalyse unterschiedlich beschrieben:
• Aus empirisch wissenschaftlicher Perspektive ist die Entwicklungspsychologie eine wichtige Möglichkeit, klinische Arbeitsmodelle zu bestätigen.
• Aus hermeneutischer Sicht dienen entwicklungspsychologische Modelle als Grundlage für Theorien und Interventionen. Die Rekonstruktion einer individuellen Entwicklung kann sich dabei von empirisch gewonnenen Entwicklungsmodellen unterscheiden. Widersprüche bleiben dann ein Anlass zu weiterer Nachforschung.
• Aus der Sicht einer hermeneutisch-konstruktivistischen klinischen Arbeit können entwicklungspsychologische Konzepte als nicht relevant für die psychoanalytische Behandlungspraxis betrachtet werden. Hier wird aus den Erinnerungen Erwachsener in der klinischen Arbeit kindliches Erleben rekonstruiert. Ein so »rekonstruiertes Kind« und das »Kind der empirischen Entwicklungsforschung« haben dann wenig oder nichts miteinander zu tun.
Das Einnehmen einer entwicklungspsychologischen Perspektive ist in der klinischen psychoanalytischen Arbeit oft mit der Betonung eines aktiven lebenslangen Prozesses der Bewältigung von Konflikten verbunden. In der Gegenwart ist die Vergangenheit enthalten. Die Bewältigung vergangener Entwicklungsaufgaben stellt sich in der analytischen Situation dar und kann nachträglich neu und auch anders verstanden werden. Ein Verstehen der Verbindungen zwischen aktuellem Erleben in der analytischen Situation und der eigenen Entwicklungsgeschichte ergibt einen individuellen Sinn. Analysanden können Vergangenes dann umfassender reflektieren und brauchen es nicht mehr in alter Form zu wiederholen. Eine entwicklungspsychologische Perspektive ist daher nicht allein auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart und auf eine Zukunft hin ausgerichtet.
Lernziele
• Entwicklungspsychologische Konzepte der Psychologie und der Psychoanalyse kennenlernen.
• Übergreifende entwicklungspsychologische Annahmen in der Psychoanalyse beschreiben können.
• Unterschiedliche Auffassungen von Entwicklung in den Psychologien der Psychoanalyse (Triebtheorie, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie, Bindungstheorie und strukturale Analyse) miteinander in Beziehung setzen können.
• Heuristische Bedeutung von Entwicklungstheorien für Therapien erkennen.
• Empirische Kritik an den psychoanalytischen Entwicklungstheorien kennen.
2.1 Entwicklungspsychologische Begriffe und Konzepte
Klinisches psychoanalytisches Arbeiten ist ohne ein Wissen um die gesunde und beeinträchtigte Entwicklung des Menschen nicht gut möglich. Zweifel und Nichtwissen bleiben. Entwicklungspsychologische Konzepte können für psychodynamische Überlegungen oder subjektive Krankheitstheorien nicht »wörtlich genommen« werden. Erkenntnisse aus der klinischen Situation, die retrospektiv für Therapeuten und Patienten eine überzeugende Kausalität aufweisen (und damit möglicherweise intersubjektiv und als Einsicht klinisch wirksam sind), können in prospektiven Untersuchungen nur einen geringen oder keinen Einfluss zeigen. Die »Überdeterminierung« (Freud, 1895) menschlichen Erlebens und Verhaltens (es gibt in aller Regel vielfache und zusammenwirkende Ursachen, kaum je eine einzelne, die ein Verhalten bestimmt) führt im konkreten Fall zu einer hohen Komplexität und Ungewissheit. Empirisch wissenschaftliche Aussagen sind daher in ihrer Generalisierung auf konkrete Patienten ebenso mit Vorsicht und Kritik zu betrachten wie am Einzelfall gewonnene klinische Schlussbildungen in Hinsicht auf die Entwicklung von allgemeineren Konzepten.
Neue Forschungsbefunde können unsere Sicht auf klinische Phänomene verändern. Sie regen zu neuen Konzeptualisierungen an und schaffen Verbindungen zwischen dem »Kind der empirischen Entwicklungsforschung« und dem »aus der klinischen Situation konstruierten Kind«. Implizite und explizite Theorien zur Entwicklung beeinflussen als Vorannahmen von Therapeuten klinisches Verstehen und Handeln.
Emde (2011) beschreibt Entwicklung als einen »fortwährenden, lebenslangen Prozess, der nicht nur eine Vergangenheit hat, sondern auch in der Gegenwart existiert und sich auf eine Zukunft zubewegt. Der Blick ist dabei nach vorn gerichtet« (S. 779). Aus der Sicht eines Individuums zeigt sich der »nach vorn gerichtete« Blick im Begriff des »Wunsches«, der heute entwicklungsbezogene Aspekte des Triebbegriffs aufnimmt. Psychoanalytische Konzepte tragen dazu bei, empathisch die Sichtweise von anderen Menschen nachzuvollziehen und verstehen zu lernen. So steht in der Psychoanalyse inhaltlich das subjektive Erleben des Einzelnen im Fokus der Aufmerksamkeit, das methodisch auch über Einfühlung und Selbstreflexion erschlossen wird. Daten werden vorwiegend aus der Perspektive eines Patienten (seiner Selbstwahrnehmung) erfasst (siehe aber unten zur Frage von Konflikt und Strukturmodellen). Die akademische Entwicklungspsychologie dagegen beobachtet Kinder vorwiegend aus einer um Objektivität bemühten Position und gewinnt ihre Daten aus Fremdwahrnehmungen. Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung erfassen Unterschiedliches (McClelland et al., 1989). Es trägt zu Verwirrung bei, dass diese zwei Datenquellen begrifflich oft nicht