Gefühlte Wahrheiten. Ortwin Renn

Gefühlte Wahrheiten - Ortwin Renn


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Vorgehensweise (etwa Experiment, Messung, genaue Beobachtung) auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen kann.3

      Im Falle der beiden Fotos in Bild 1, ist die Methode der Überprüfung einfach: Man wählt zwei Fotos aus, die vom selben Standort aus aufgenommen wurden, und zählt schlichtweg die Menschen, die auf dem einen und auf dem zweiten Foto zu sehen sind. Natürlich kann man sich dabei verzählen: Für eine wissenschaftlich valide Beweisführung ist es notwendig, dass im Prinzip jeder, der erstens zur Prüfung befähigt ist (d. h. sehen kann und gleichzeitig in der Lage ist, Objekte zu zählen) und zweitens guten Willens ist (also nicht lügt oder strategisch handelt), zum gleichen Ergebnis [15] kommen muss.4 Je größer der Unterschied zwischen den Zählergebnissen auf dem ersten und dem zweiten Foto ausfällt, desto eindeutiger ist das Ergebnis. In unserem Falle ist also klar: Bei der Amtsübernahme von Barack Obama waren wesentlich mehr Menschen zugegen als bei der Amtsübernahme von Donald Trump. Jedes andere Ergebnis wäre eine Fälschung des eindeutigen Zählergebnisses. Von daher kann es gar keine Alternativen Fakten geben, sondern lediglich alternative Wahrheitsansprüche, die geprüft werden müssen und können. Sind sie einmal geprüft, gibt es nur (vorläufig bestimmte) wahre Aussagen und eindeutig falsche Aussagen.

      Bild 1: Vergleich der Amtseinführungen von Barack Obama links im Jahr 2009 und Donald Trump rechts im Jahr 2017.

      Quelle: Adams, C. 2017: President Trump’s inauguration crowd was smaller than Obama’s. In: https://www.cbsnews.com/news/photos-president-trumps-inauguration-crowd-vs-president-obamas/, (abgerufen am 18.02.2019)

      [16] Bei dem Vergleich der beiden Fotos ist diese klassische Sicht der Überprüfung von Wahrheitsansprüchen offenkundig und hat auch die Debatte um den Umgang mit Fakten weltweit geprägt. Aber bei vielen Aussagen ist diese klassische Sicht durchaus nicht so offensichtlich. Die eindeutige Trennlinie zwischen dem, was als wahr, und dem, was als falsch eingestuft werden kann, ist bei vielen Aussagen nicht so leicht zu treffen. Das kennt man auch aus dem Alltag: Wenn jemand sagt: „Mir ist kalt“, und jemand anderes sagt: „Ich finde, hier ist es viel zu warm“, dann schließen sich auf der objektiven Ebene beide Aussagen aus, denn es kann nicht gleichzeitig kalt und warm sein. Aber auf der subjektiven Ebene treffen beide Aussagen zu. Die eine Person ist halt empfindlicher gegenüber niedrigeren Temperaturen als die andere. Hier sprechen wir häufig von subjektiven Wahrheiten, die das persönliche Empfinden oder die persönliche Wahrnehmung eines Sachverhalts widerspiegeln. Wir können auch in Anlehnung an den Titel des Buches von gefühlten Wahrheiten sprechen. Dabei lässt sich der Wahrheitsgehalt nicht mit einem Thermometer messen und überprüfen, sondern das Prüfkriterium bei subjektiven Wahrheiten ist die Authentizität der Aussagen. Eine Aussage ist dann authentisch, wenn die Person genau das für sich als wahr und angemessen betrachtet, was sie in ihrer Aussage gegenüber anderen zum Ausdruck bringt. Also kurz gesagt: Dass sie weder lügt noch aus strategischen Gründen die Wahrheit verbiegt. In unserem Falle mag beispielsweise derjenige, der behauptet, die Raumtemperatur wäre zu warm, aus strategischen Gründen gehandelt haben, um beispielsweise zu verhindern, dass die andere Person die Heizung höher dreht und damit mehr Kosten verursacht. Authentische Wahrheitsansprüche (wahrhaftig über den eigenen Zustand Aussagen zu machen) haben also eine andere Qualität von Wahrheitscharakter als Aussagen, die sich auf intersubjektive Wahrheit berufen.

      Besonders schwierig zu beurteilen sind Aussagen, die den Anspruch erheben, allgemeingültige Zusammenhänge über die Realität zu erfassen, bei denen es aber keine von allen akzeptierte Methode gibt, diese Wahrheitsansprüche zweifelsfrei und eindeutig nachzuweisen. Etwa die Aussage „Menschen sind von Natur aus aggressiv“ lässt sich weder beweisen noch widerlegen, weil Menschen grundsätzlich in Gemeinschaften aufwachsen, in denen Normen zum aggressiven Verhalten vermittelt werden. Was angeboren oder anerzogen ist, bleibt daher offen. Selbst naturwissenschaftliche [17] Aussagen entziehen sich häufig einer stringenten experimentellen Beweisführung und stellen eher Hypothesen (Wahrheitsansprüche) als gesicherte Erkenntnisse dar.5

      Innerhalb der Wissenschaftstheorie gibt es einflussreiche Schulen, die grundsätzlich davon ausgehen, dass unser Wissen nur das repräsentieren kann, was wir entweder als Individuen subjektiv wahrnehmen (authentische Wahrheiten) oder als Gruppe auf der Basis gemeinsamer Erkenntnisregeln als „wahr“ festhalten (sozial konstruierte Wahrheiten). Eine übergeordnete Wahrheit, die von allen anerkannt wird, kann es demnach nicht geben.6 Unter diesem Blickwinkel gibt es nicht nur alternative Wahrheitsansprüche, sondern auch alternative Wahrheiten, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man die Realität betrachtet. Diese sogenannten postmodernen Erkenntnistheorien haben sich in den Geisteswissenschaften und den Sozialwissenschaften sehr stark etabliert und haben nach Meinung von vielen, diesen Ansätzen kritisch gegenüberstehenden Wissenschaftlern zur Relativierung des Wahrheitsbegriffs beigetragen.7

      Die Frage nach dem, was faktisch vorliegt und was Fake News sind, ist also komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Bei den beiden Fotos ist es jedem ersichtlich, dass die Aussage des amerikanischen Pressesprechers nicht stimmen kann und der Begriff des alternativen Faktums bestenfalls eine Verlegenheitsantwort war, um von diesem offensichtlichen Irrtum [18] oder sogar von einer Lüge abzulenken. Bei anderen Themen, wie etwa der Frage, ob die Grenze der Integrationsfähigkeit von ausländischen Flüchtlingen in Deutschland erreicht ist, oder ob mehr direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen deren Qualität verbessert, ist die Frage, was wahr und was falsch ist, wesentlich schwieriger zu beantworten. Das bedeutet aber nicht, dass alle Wahrheitsansprüche beliebig seien, und jeder sich seine Wahrheit nach eigenem Gusto auswählen könnte. Damit wir einen angemessenen Standort zwischen den beiden Polen der naiven Wahrheitsgläubigkeit und der vollständigen Relativierung der Wahrheit einnehmen können, müssen wir etwas tiefer in die Wissenschaftstheorie eintauchen und uns mit drei wesentlichen Entwicklungen in unserem Verständnis von Wahrnehmung und Realität auseinandersetzten: der linguistischen Wende, der Komplexitätswende und der stochastischen Wende in unserem Wissensverständnis.

      Die linguistische Wende

      Mit dem Begriff der linguistischen Wende wird eine einfache Erkenntnis umschrieben, dass Menschen ihre (Um)Welt mit Hilfe der Sprache erkennen, ordnen und deuten. Die Grundlagen für dieses Verständnis von Sprache als Gestalterin der Wahrnehmungspraxis gehen auf die beiden Philosophen Ludwig Wittgenstein [1889–1951] und John Longshaw Austin [1911–1960] zurück. Hier ist nicht der Ort, die Lehrgebäude der beiden Philosophen vorzustellen, aber für unsere Frage nach der Unterscheidung zwischen Fakten und Nicht-Fakten, zwischen wahr und falsch sind einige Erkenntnisse aus deren Überlegungen wichtig.8

      Wenn wir im Alltag den Begriff „Wahrnehmung“ benutzen, dann gehen wir implizit von einer Vorstellung aus, dass es in der uns umgebenden Außenwelt Gegenstände, Personen oder Handlungen gibt, die wir mit unseren Sinnesorganen beobachten und erfassen können. Nach diesem intuitiv einsichtigen Modell gibt es eine externe Realität, die uns Signale sendet, die [19] wir mithilfe unserer Augen, Ohren und anderen Sinnesorganen aufnehmen und entsprechend den realen Gegebenheiten zu deuten wissen. In der Fachsprache wird dies häufig als Isomorphie (Gleichartigkeit) zwischen Realität und Wahrnehmung bezeichnet.9

      Diese, auf den ersten Blick überzeugende, Vorstellung über unsere Wahrnehmung ist aber bei näherem Hinsehen sehr fragwürdig.10 Dies lässt sich beispielswiese an Gemälden verdeutlichen. Was wir mit unseren Augen wahrnehmen, ist nichts anderes als ein Gemisch aus Ölfarben, die in uns den Eindruck eines Gegenstandes hinterlassen. Um es noch präziser zu beschreiben, unser Auge sieht nichts Anderes als Lichtreflexionen von Gegenständen, von denen aus die für unser Auge sichtbaren Lichtwellen gebrochen werden. Unsere Netzhaut im Auge rekonstruiert aus diesen Lichtreflexen Eindrücke von Konturen und Farben.11 Und das ist alles! Ob der Baum ein Baum, der Tisch ein Tisch, das Haus ein Haus oder die Person X die Person X darstellt, ist nicht aus den Lichtreflexen, die wir in der Netzhaut des Auges repräsentiert sehen, zu erschließen. Erst durch unsere Erziehung (Sozialisation) lernen wir, Mustern aus bestimmten


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