Liebe in Zeiten des Kapitalismus. Robert Misik
die fortschrittliche Fabrikorganisation, die individuelle Fertigkeiten entwertete und insofern die Arbeiter „immer gleicher“ machte, eine mächtige Verbündete der Gleichheitsvorstellungen. Auch in Gestalt eines mehr oder weniger diffusen „Gemeinschaftsgefühls“ war uns die Gleichheit bekannt. Derart zentral und peripher, anwesend und abwesend zugleich, politisch still repräsentiert und stumm vorausgesetzt, sind die Gleichheitshoffnungen der Mehrheiten nie vordergründig sichtbar gewesen und sie sind es heute weniger denn je. Und auch das kollektivistische Motiv des Gleichheitsideals und das Versprechen auf Befreiung des Individuums aus gesellschaftlichen und somit kollektiven Zwängen lagen immer in einem Spannungsverhältnis, wie es von Marx in der berühmten Formulierung des „Kommunistischen Manifests“ aufzulösen versucht wurde, wonach im Kommunismus „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.
So müssen die Gleichheitshoffnungen in ihrer oft paradoxen Gestalt gesehen werden. Schon die immer genervte Rechtfertigung der Ungleichheit als ökonomisch oder sozial nützlich durch die Ideologen des Konkurrenzprinzips verweist auf einen tief sedimentierten Begriff der Gleichheit. Auch der Egalitarismus selbst tritt oft nur auf subtile Art, sozusagen negativ auf: nicht als Forderung nach „mehr Gleichheit“, sondern als waches Sensorium für jedwede Gefährdungen der Gleichheit, die auch in Neid und Ressentiments ihren Ausdruck finden können. So mag zwar jeder das Bedürfnis nach Distinktion verspüren, ist gleichzeitig aber Adressat der Abgrenzungsbedürfnisse anderer, die dann aber „Überheblichkeit“ und „Arroganz“ heißen, auf die der Einzelne leicht allergisch reagiert.
KLAR IST JEDENFALLS: Auch unsere modernen Gesellschaften verfügen über stark wirksame Gerechtigkeitskulturen, doch die sind „so kompliziert wie das Leben selbst“, wie Angela Krebs formuliert. So kompliziert, dass, wenn die Rede auf Gerechtigkeitsideale kommt, eher Ahnungen referiert werden als gesicherte Sachverhalte. „Meiner Ansicht nach“, schreibt etwa Anne Phillips, „ist den Menschen die Frage der Gleichheit eher wichtiger denn unwichtiger geworden. Sie bestehen nachdrücklicher darauf, als Gleiche behandelt zu werden (‚Wieso glaubt er, etwas Besseres zu sein, als ich?‘; ‚Woher nimmt er das Recht, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe?‘), sind weniger bereit, eine untergeordnete Position zu akzeptieren.“ Die Feststellung, dass Ungleichheit einer besonderen Rechtfertigung bedarf, wohingegen dies für die Gleichheit nicht gilt, ist ohne Zweifel immer noch richtig und ein gewichtiges Indiz für die starke Verwurzelung eines die Gleichheit betonenden Gerechtigkeitsideals. Diesen Gedanken hatte auf eindringliche Weise der russisch-angloamerikanische Philosoph Isaiah Berlin entwickelt: „Die Behauptung ist, dass Gleichheit keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn ich einen Kuchen besitze und es zehn Personen gibt, unter denen ich aufteilen will, dann entsteht nicht automatisch ein Rechtfertigungsbedarf, wenn ich jeder Person ein Zehntel des Kuchens zukommen lasse. Wenn ich jedoch von diesem Grundsatz der Gleichverteilung abrücke, wird von mir erwartet, besondere Gründe dafür anzugeben.“
In dieses Bild der Paradoxien fügt sich übrigens, dass ausgerechnet die Epoche „gleichmacherischer“ Massendemokratien die Ideologie des „Individualismus“ entwickelte, und just im Zeitalter kapitalistischer Uniformierung und Standardisierung die feinen Unterschiede zwischen den Massenexistenzen immerwährend betont werden. „Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an“, beobachtete Siegfried Kracauer schon in den Zwanzigerjahren in seinen berühmten Studien der modernen Angestelltenwelt. Es ist grotesk, dass ausgerechnet die kapitalistischen Funktionseliten, denen ihre Austauschbarkeit in Gestalt ihrer „Business-Suites“ auf den Leib geschrieben steht, gegen die „Gleichmacherei“ wettern.
Der Historiker Paul Nolte hat in einem bemerkenswerten Aufsatz die neuen Trennungen beschrieben – als „ein getreues Abbild der alten Klassengesellschaft, die wir verdrängt haben, ohne ihre Realität beseitigen zu können“. Neue, subtile Spaltungen tun sich auf. So habe der „private Konsum … eine größere Bedeutung für die Selbststilisierung des Einzelnen“ gewonnen, haben „Konsum und Lifestyle soziale Unterschiede nicht eingeebnet, sondern vergrößert“. Die Möglichkeiten, die etwa der technologische Fortschritt bietet, verringern gleichzeitig die Chancen derer, die – aus welchen Gründen immer – diese nicht wahrnehmen können. Die „Internet-Linie“ spaltet alle, die die neuen Technologien beherrschen, von jenen ab, die dies nicht tun. So spielen die Kategorien „Alter und Generation in den sozialen Verteilungskämpfen eine größere Rolle“. Bei der Rede über „Individualisierung“, „Risiko“ und „Optionen“ fällt selten auf, „dass die einen mehr Optionen haben, die anderen größere Risiken tragen“. Wenngleich sich, trotzdem sich die Schere zwischen Oben und Unten öffnet, durch den sozialen „Fahrstuhleffekt“ der allgemeine Lebensstandard erhöht haben mag, so wuchsen die Abstände und haben sich „neue, subtile Mechanismen der sozialen Differenzierung herausgebildet“. Völlig unbeachtet, so Nolte, sei etwa der Umstand, dass sich zunehmend das „Premium-Segment“ gehobener Gütermärkte vom Massenkonsum abhebt, während „am anderen Ende der Preiskampf der ‚Discounter‘ immer härter wird.“ Anstelle einer „nivellierenden Massengesellschaft“, wie uns allgemein glauben gemacht wird, schaffen diese „Optionen“ eine Kultur, die der Demonstration und Verfestigung von Klassenunterschieden dient. Nolte: „Das Fernsehen ist das beste Beispiel: Der Aufstieg der Privatsender hat ja nicht einfach zu einer ‚Bilderflut‘ geführt, er hat vor allem eine Klassendifferenzierung des Fernsehens bewirkt, die es zur Zeit des Duopols von ARD und ZDF nicht gab. Mit RTL und Sat.1 ist ein spezielles Unterschichtfernsehen entstanden, und deshalb war es nur konsequent, dass sich am anderen Ende der sozialen Skala Sender wie 3sat oder Arte etablierten.“
DIE GERECHTIGKEITSFRAGE, die heute jeden politischen Diskurs – von der Steuergesetzgebung bis zur Globalisierungsdebatte – dominiert, ist nicht zu klären, solange um die Frage der „Gleichheit“ wie um einen heißen Brei herumgeredet wird. Der öffentliche politische Diskurs der Eliten über die Sachzwänge moderner, dynamischer, globalisierter Ökonomien und der Alltagsverstand breiter Bevölkerungsschichten klaffen dramatisch auseinander. Bei allen Unwägbarkeiten der Demoskopie: Zumindest eine gewichtige Minderheit, wenn nicht die bedeutende Mehrheit der Bevölkerung in den (kontinental-)europäischen Ländern ist der Überzeugung, dass mehr Gleichheit der gesellschaftlichen Entwicklung gut täte und dass es in diesen Gesellschaften nicht mehr gerecht zugeht.
Da freilich, wie wir oben gesehen haben, die Gleichheitskultur in unseren Gesellschaften „so kompliziert wie das Leben selbst ist“, wäre es überheblich, so zu tun, als wäre es eine einfache Sache, moderne linke Politik zu formulieren. Schließlich werden ja auch nicht alle Formen der Ungleichheiten von den Menschen abgelehnt. Dem Gleichheitsprinzip stehen auch Ungleichheitsprinzipien entgegen: dass besondere Kenntnisse, eine gediegene Ausbildung, große Erfahrung zu höheren Einkommen oder mehr Einfluss „qualifizieren“, wird selten in Abrede gestellt; auch wird das Prinzip von freiem Tausch – das freilich die Akkumulation von Reichtümern zur Konsequenz haben kann – kaum bestritten; nicht jede Differenz an Chancen wird gleich als Folge von ungerechten Privilegiertheiten allgemeiner Kritik unterzogen. Zudem kommen zu all diesen Prinzipien, die in Widerspruch zueinander treten können und einen Raum der „komplexen Gleichheit“ (Michael Walzer) eröffnen, auch noch Erwägungen des Nutzens hinzu. Wenn die Durchsetzung von mehr Gleichheit zwar zur Verringerung der Privilegien der Oberen beiträgt, den Unteren aber allenfalls in ihrer relativen Position nützt, keineswegs aber in ihrer absoluten Wohlfahrt, so hat das Gleichheitsprinzip zweifellos schlechte Karten – insbesondere also, wenn umverteilende Maßnahmen tatsächlich die allgemeine Prosperität beeinträchtigen würden. Darum sollte der Egalitarismus zumindest moderat genug sein, „um im Konfliktfall ‚Gleichheit versus Wohlfahrt‘ nicht immer Gleichheit Trumpf sein zu lassen“. All diese Einschränkungen führen nicht wenige Gesellschaftstheoretiker dazu, das Gleichheitsprinzip vollends fallen zu lassen: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht“ (Harry Frankfurter).
Totale Gleichheit der Einkommen ist nicht möglich, und die meisten Menschen halten sie wahrscheinlich auch nicht für erstrebenswert. Aber eine mindestens ebenso große Mehrheit hält dramatische Einkommensunterschiede für gleichsam verwerflich; kein Mensch kann darüber hinaus die totale Durchökonomisierung und -monetarisierung der Gesellschaft begrüßen. Zudem sind große Ungleichheiten ökonomisch kontraproduktiv.