ad Hannah Arendt - Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Alfons Söllner

ad Hannah Arendt - Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft - Alfons Söllner


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aus den Orten ersehen, zwischen denen er geführt wird: Hannah Arendt war im Auftrag einer zionistischen Auswandererorganisation, deren französische Sektion sie seit 1935 leitete, zur Gründung des jüdischen Weltkongresses nach Genf gereist. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Hannah Arendts politische Neigungen in Paris eher praktischer als theoretischer Natur waren. Sie gingen konform mit einer der schwierigsten Aufgaben, mit denen Flüchtlinge zu allen Zeiten konfrontiert sind und bei deren Lösung Hannah Arendt offenbar geschickter war als viele andere: mit der Beschaffung des Lebensunterhaltes. Es waren jedoch ausschließlich jüdische Organisationen, bei denen Hannah Arendt in den 1930er Jahren eine mehr oder weniger zuverlässige Anstellung erhielt: zunächst als Sekretärin bei „Agriculture et Artisan“, die Palästina-Auswanderern eine Berufsvorbereitung anbot, dann arbeitete sie bei der Jugendhilfsgruppe „Aliyah“, mit der sie 1935 auch eine Reise nach Palästina unternahm, später koordinierte sie im Auftrag einer Baronesse von Rothschild die Verteilung von Spendengeldern an jüdische Wohlfahrtseinrichtungen.

      Die Beziehung zu Walter Benjamin ermöglicht es, noch einen anderen Aspekt an Hannah Arendts Verhältnis zu Frankreich hervorzuheben: Zunächst dürfte sich der Kontakt darüber hergestellt haben, dass Benjamin ein entfernter Verwandter von Günther Stern und also schon aus Berlin bekannt war. Daraus entwickelte sich in Paris eine Freundschaft besonderer Art: Zum regen intellektuellen Austausch gesellten sich persönliche Fürsorge und private Unterstützung, je länger sich das Exil hinzog. Benjamin war bekanntlich nicht im landläufigen Sinne „lebenstüchtig“, wie besonders sein Zögern belegt, Europa endlich den Rücken zu kehren. In dieser Situation boten sich Arendt und Blücher als besorgte Helfer in den notorischen Emigrantennöten an, nicht zuletzt weil sie zeitweilig in Benjamins unmittelbarer Nachbarschaft im 15. Arrondissement wohnten. Seine Wohnung in der rue Dombasle 10 dürfte der Ort gewesen sein, an dem sie in kleinerem Kreis ihre philosophischen und politischen Dispute geführt haben, wenn sie sich nicht in einem der Boulevard-Cafes trafen, die damals schon der locus classicus des Intellektuellenlebens waren.10

      Damit ist der vielleicht interessanteste Punkt angedeutet, wenn es um Hannah Arendts Frankreich-Erfahrung geht: Benjamins Beziehung zu Paris war bekanntlich bereits in den 1920er Jahren intim und existentiell gewesen, mit dem Übergang ins Exil verstetigte sich diese Konstellation nicht nur, vielmehr wurden Paris und seine städtische Kultur gleichzeitig zum Medium und zum Gegenstand seines Schaffens.11 Das Ergebnis dieser intimen Engführung von Leben und Werk hat sich in seinem „Passagenwerk“ niedergeschlagen, das nicht zufällig so fragmentarisch geblieben ist wie Benjamins tragische Lebenskurve in Frankreich insgesamt. Das wiederum dürfte nicht ohne Einfluss auf Hannah Arendts Weltsicht geblieben sein, zumal wenn man bedenkt, dass sie es war, die dem besten Freund Benjamins als erste die schockierende Nachricht von seinem Selbstmord überbrachte: „Walter Benjamin hat sich das Leben genommen, am 26.9., an der spanischen Grenze, in Port B.“, schreibt sie am 21. Oktober 1940 an Gershom Scholem nach Jerusalem. „Er hatte ein amerikanisches Visum, aber seit dem 23. lassen die Spanier nur Inhaber ‚nationaler‘ Pässe durch… Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde.“12

      Bedenkt man diese persönliche Nähe und ihre schicksalhafte Verdichtung in den dramatischen Monaten nach Kriegsbeginn, so liegt der Gedanke nahe, dass Benjamins Selbstmord an der spanischen Grenze für Hannah Arendt zur hautnahen Demonstration all dessen wurde, was die Kapitulation Frankreichs vor Hitler-Deutschland für die jüdischen Flüchtlinge bedeutete. Hinzu kam die feinfühlige Ahnung von der theoriegeschichtlichen Reichweite der berühmten „Geschichtsphilosophischen Thesen“, deren Manuskript Benjamin Arendt in Marseille übergeben hatte. Arendt und Blücher lasen sie sich gegenseitig vor, als sie im Frühjahr 1941 auf das Schiff warteten, das sie in letzter Minute von Lissabon nach New York brachte. Das alles dürfte ihre Phantasie an die letzten Monate in Frankreich gefesselt und sie, gleichsam in Auflehnung dagegen, zu den kühnen Abstraktionen ermuntert haben, die sich im Frankreich-Bild ihrer späteren politiktheoretischen Bücher zeigen.13

      Hat also Frankreich, als Land und als Kultur, nur indirekt Einfluss auf die Erfahrungswelt einer Frau genommen hat, deren Weltoffenheit später beinahe sprichwörtlich geworden ist? Auffällig sind z.B. die wenigen Kontakte zu französischen Kreisen: Nur Raymond Aron erwähnt Hannah Arendt kurz in seinen Memoiren, er hat ihr wohl Zugang zu den Hegel-Seminaren von Alexandre Kojève verschafft, die aber ihrerseits keinerlei Resonanz in den Texten aus den 1930er und 1940er Jahren finden.14 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sieht, wie wenig sie in Paris fortsetzte, was am Ende der Weimarer Republik immerhin begonnen hatte: die publizistische Tätigkeit. Tatsächlich hat Hannah Arendt in den acht Pariser Jahren außer drei kleinen Gelegenheitsartikeln nichts auf Französisch publiziert.15 Und wenn man sich in den teilweise umfänglichen Manuskripten umsieht, die aus der Pariser Zeit aufgetaucht sind, so findet sich zwar bestätigt, was nicht anders zu erwarten war, nämlich dass Hannah Arendt sehr wohl und verstärkt wieder gegen Ende der 1930er Jahre „weitergeschrieben“ hat, doch noch mehr fällt auf, dass Frankreich in ihnen eine Leerstelle markiert.

      So ist der in den „Jewish Writings“ abgedruckte, aber ursprünglich auf Deutsch geschriebene Text über „The Jewish Question“16 von 1937/8 zwar eine packende Alarmschrift. Sie beklagt das Desinteresse der Weltöffentlichkeit gegenüber dem Antisemitismus und geißelt die Rückzugsmentalität gerade der deutschen Juden. Aber das Land, in dem die Autorin sich aufhält, wird gar nicht erwähnt, während die Explosion des deutschen Antisemitismus zwischen Polen und Spanien als den traditionell judenfeindlichen Ländern verortet wird. Ähnlich liegen die Dinge in dem großen Manuskript zum Antisemitismus, das auf das Jahre 1938/9 datiert wird. Es ist, offenbar in Weiterentwicklung des Varnhagen-Projektes aus den frühen 1930er Jahren, ausschließlich auf die deutsche Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert konzentriert und lässt nichts von dem erkennen, was die späteren Interventionen Hannah Arendts so innervierend, aber auch so treffsicher erscheinen ließen, nämlich die hermeneutische Reflexion auf den Standort, von dem aus sie geschrieben sind. Auch hier bleibt Frankreich außerhalb der Betrachtung.17

      Zwar sind die meisten Motive schon da, die später im Totalitarismus-Buch ausgearbeitet werden – z.B. die Schlüsselstellung des Antisemitismus für die Sozialgeschichte nach beiden Seiten: Für die jüdische Minderheit bleibt die Emanzipation scheinhaft, weil die Assimilation scheitert, und in der Mehrheitsgesellschaft steigert sich der christliche Antijudaismus zum politischen Antisemitismus. Aber das „jüdische Problem“, sofern es den Schlüssel zur Aufklärungsepoche darstellt, geht vom „deutschen Fall“ aus und bewertet die aktuelle Durchsetzung des Nationalsozialismus nur als paradoxe Übersteigerung eines allgemeinen Trends. Erst ganz am Ende der langen Ausführungen – bei der Schilderung des Rothschild-Clans als Exponenten einer scharf „reaktionären“ Wendung des assimilierten Judentums – kommt Frankreich doch noch in Sicht; schließlich war dort das Aktionszentrum dieses europäischen Clans, und die nach Paris emigrierten Vormärzler – Heine und Börne sowie das Frankreich idealisierende Junge Deutschland – erscheinen als deren kritische Gegenspieler.18

      Eine Sonderstellung kommt in diesem Zusammenhang dem Biographieprojekt über Rahel Varnhagen zu: Hannah Arendt hatte dieses Manuskript über die „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“, wie das spätere Buch hieß19, bis auf die letzten beiden Kapitel fertiggestellt, bevor sie Berlin verlassen musste. In Paris blieb es zunächst liegen und wurde erst 1938 wieder aufgenommen, als sie von Walter Benjamin und, vermittelt über ihn, von Gershom Scholem dazu gedrängt wurde.20 Diese doppelte Intervention reflektierte auf die mitgebrachte Anlage der Rahel-Biographie und verpasste ihr einen Vorschlag zur Transformation: Hannah Arendt hatte den Weg, der von der aufklärerischen Vernunft zum romantischen Interesse an Herkunft und Geschichte führt, negativ nachgezeichnet und am Schicksal der Rahel Levin gezeigt, dass die Toleranzpraxis der frühromantischen Salons sich nicht verstetigen lässt, dass der Aufstieg in die Adelswelt nicht und die Assimilation an die bürgerliche Welt nur mittels der Taufe, d.h. der Verleugnung der jüdischen Herkunft gelingt.

      Die 1938 hinzugefügten Schlusskapitel aber lehnen sich dagegen auf und unternehmen eine Distanzierung, die als Reflex der Flucht aus Deutschland und als Folge exiltypischer Politisierung anzusehen ist. In der Vordergrund tritt jetzt das Begriffspaar Paria-Parvenü, das der Lebensgeschichte der Rahel Varnhagen, wie


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