Brauch Blau. Julia Malik

Brauch Blau - Julia Malik


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      »Vielleicht geht es gut, denkt sie, vielleicht habe ich Glück und kann alles zusammen haben, Arbeit und Kinder. Alles zusammen, außer der Liebe natürlich.«

      Sie erwacht auf einem Hotelbett, ihre Erinnerungen sind im Nebel, dringen nur splitterhaft zu ihr durch. Eine Erkenntnis flutet wie eine heiße Welle ihr Bewusstsein: Sie hat zwei kleine Kinder! Wieso ist sie allein? Eines steht fest: Sie muss sie finden, und zwar schnell. Eine atemlose Suche beginnt. Sie rennt. Und sie muss ihr Leben in den Griff und endlich diese Hauptrolle in der Oper bekommen. Alles steht auf dem Spiel: das Wohlergehen ihrer Kinder und ihr eigenes Selbstverständnis als Karrierefrau und Mutter, die verzweifelt versucht, sich gegen die Selbstaufopferung zur Wehr zu setzen, die ihr der Alltag als Alleinerziehende abverlangt. Sie hat es endgültig satt, allen immer nur zu gefallen.

      In »Brauch Blau« sieht eine Mutter rot. Es ist die Geschichte einer Frau, die kämpft: gegen ihre gesellschaftliche Rolle, die ihr den Atem abschnürt, gegen den Vater ihrer Kinder, der sie nicht nur verlassen hat, sondern der ihre Grenzen übertritt, gegen die Fremdbestimmtheit und nicht zuletzt gegen sich selbst.

Titel Verlagslogo

      Inhalt

       Wand

       Flur

       Beton

       Brauch Blau

       Mutter

       Monbijou

       Dancing Queen

       Baby

       Schwelle

       The Rape

       Arschmama

       Automat

       Vorsingen

       Babysitter

       Diener

       Kerker

       Die Dicke

       Leopardenhaut

       Norma

       Blau

      WAND

      Sie ist noch auf der anderen Seite, als sie die Bewegung ihres Atems spürt. Gleitet über die Schwelle, hinüber zum Licht, öffnet die Augen. Alles ist schwer, teuer und klebrig. Ihr Blick hängt fest zwischen Sesseln und Quasten. Wo ist sie hier? Das ist ein Hotelzimmer. Sie ist ganz neu. Die Vorhänge sind aufgezogen, schwere Seide an den Seiten. Dazwischen flattern weiße Gespenster. Kalte Luft wabert. Wie spät ist es, was macht sie hier? Nirgendwo ein Hinweis, nur unbestimmbare Ewigkeit im Außen.

      Sie friert, so nackt auf dem Bett. Die Arme hinter dem Kopf, sie kann sich nicht bewegen. Verdreht ragt ihr Becken in die Luft, tief darunter liegt die Taille. Ihre Haut, frisch gewaschen auf dem weißen Laken. Sie hat diesen Körper noch nie gesehen. Der Bauch eine Rundung. Dann wölbt sich das Schambein unter dunklen Haaren. Da, wo sie hinschaut, spürt sie sich. Innen drin zieht es. Wärme. Ihre Hände möchten die Brüste greifen, wollen sie drücken, die Nippel zwischen den Fingern reiben. Sie ist doch diese Frau. Aber sie kann die Hände nicht bewegen.

      Um das Bett Papiertüten und Klamotten. Stimmt, ihr wurde an der Rezeption eine Tüte in die Hand gedrückt, vielleicht eine Verwechslung, aber das war ihr egal, sie ist auch nicht sie selbst gewesen, also ist sie damit losgezogen. In der Abendsonne ist sie aus dem Hotel getreten, mit federbesetzten hohen Sandalen, daran erinnert sie sich. Ein langer weißer Pelz. Unten wehte der Fetzen des Kleides heraus. Das riesige Tor mit den sechs Säulen. Vier Pferde sahen von oben auf sie herab. Davor der große Platz. Sie hat kein Taxi genommen. Sie ist vom Hotel weggegangen, das Tor mit seinem Grün dahinter im Rücken, immer geradeaus. Und dann? Sie kann sich nicht erinnern. Wohin ist sie gegangen?

      Stimmt, sie ist in der Oper gewesen.

      Sie hat dieses Zimmer noch nie gesehen. Eine so trockene Leere stockt in ihrem Gehirn, dass sie darin stecken bleibt. Sie späht noch einmal im Kreis. Auf dem Nachttisch ein abgestandenes Wasser, dessen Kohlensäure entwichen ist. Sie hasst lauwarmes Wasser.

      Ihr Gehirn klappt kurz auf und wirft das Bild einer Kinderhand aus. Eine sehr kleine Hand, sie hat noch keine Konturen, keine Knochen, ist ganz Weichheit. Tränen rinnen aus ihren Augen, brennen heiß über die Schläfe direkt in ihr Ohr. Neue Bilder strömen in sie. Die kleinen Hände fassen ihr ins Gesicht, riechen nach Milch und Seife. Sie klammern sich an ihren Hals. Zwei Hände, die sich an ihr halten. Ein kleiner Körper. Sie drückt das weiche Bündel an sich. Jetzt sieht sie die Augen. Sie schauen sie so unverwandt an, als wären es ihre eigenen. Sie vertrauen ihr. Sie legen sich ganz in sie hinein, in ihre Hände. Wer ist dieses Kind?

      Sie hört sich singen. Leise und zart. Sie singt zwischen diesem Wesen, das sich an ihr festhält, und sich. Das Lied ist unsere Nabelschnur, die immer da ist, denkt sie. Das Kind hört ernst zu. Sie würde es immer beschützen. Es ist ihr Kind.

      Sie erinnert sich. Wie aufgeregt sie war, sie hatte sich durch dieses Kind auch selbst gerettet. Sie hatte plötzlich eine wichtige Aufgabe, sie glaubte, jetzt alles hinzukriegen, besser zu werden, erwachsener, ein besserer Mensch.

      Das dachte sie damals jedenfalls. Sie war nach Hause gekommen, die Sonne schien, und Herbert ging los, um Windeln zu kaufen. Jetzt würde sie alles schaffen. Auch mit ihm. Sie würde sich nicht mehr verlieren, nie wieder, nicht einmal mehr straucheln, denn dieser Schatz war viel kostbarer als alles, was sie zu träumen gewagt hatte, größer als die Welt. Natürlich wichtiger als jede Oper. Jetzt würde sie auch nie wieder unglücklich sein, dachte sie in der Nacht nach der Geburt, als sie dieses kleine Wesen, das sie ununterbrochen anblickte, fest in ihren Armen hielt. In dieser Nacht im Krankenhaus konnte sie nicht schlafen, weil sie wusste, das Wichtigste ist hier passiert.

      Die blanken klaren Augen. Wo sind sie jetzt?

      Ihr Kopf tut weh. Der Schmerz besteht aus diesem stickigen Zimmer, er ist unendlich. Nur Teppichgeruch. Sie hat das Gefühl zu ersticken, und spürt sich auf die Knie sacken. Ein paar Tränen, ihre letzten Flüssigkeitsreserven, laufen ihr über die Wangen, fallen in den Teppich, werden dort geschluckt für immer.

      Wo sind die Augen, die ihr vertrauen?

      Sie hört eine kleine, zarte Stimme. Ein helles Mädchen, das sie anlächelt. Sie kennt dieses Lied, das sie singt. Eine unendlich heile Schönheit fließt aus ihm. Die weiche Federhand berührt ihr Gesicht. Das Mädchen meint sie. Das ist doch ihr Kind, oder?


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