Brauch Blau. Julia Malik

Brauch Blau - Julia Malik


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Und dass er sie jetzt verlasse, das sei doch auch nur ein Teil ihrer Liebesgeschichte. Sie hätten doch immer gesagt, sie seien auf ewig zusammen, hier und auf der anderen Seite. Den Satz hatten sie in einem Theaterstück gehört. Die andere Seite sei aber nicht der Tod, wie sie immer gedacht hätten, also das Zusammensein über alle irdischen Grenzen hinweg, sondern, wenn sie sich trennten, das geheime Zusammenhalten unterhalb der Oberfläche des Sichtbaren. Sie müsse ihn gehen lassen. Aus Liebe. Wenn sie ihn liebe, müsse sie wollen, dass er zur Vigräne geht und glücklich wird. Er komme dann auch bald wieder und bringe neue Joints. Sie könne ja nicht bauen in ihrem Zustand.

      Nach dem vierten Joint fingen ihre Panikattacken an. Sie rauchte weiter. Die Tränen rannen. Der Joint wurde nass. Sie legte ihn in einen Aschenbecher und zündete sich einen anderen an. Sie hatte gesehen, dass man einen Joint ein bisschen rauchen konnte, wieder ausmachen und am nächsten Tag zu Ende rauchen. Sie legte den Sticky, wie Herbert ihn nannte, seitlich an den Aschenbecher. Stellte den Aschenbecher auf den Balkon. Sie lag im Bett. Eines der Kinder rief nach ihr, sie ging ins Kinderzimmer, schwankte und legte sich dazu. Ihr war schwindelig. Das andere Kind war auch aufgewacht und musste pinkeln. Sie kam nicht mehr hoch. Die Große tapste allein zum Klo. War der Joint wirklich aus? Oder schmorte er weiter? Roch es nicht verbrannt? Steht ihr Kind gleich in Flammen? Sie sprang auf und stolperte gegen den Türrahmen. Hinter den Augen blitzte es grell. Das Kind weinte. Sie schrie: »Raus, sofort raus aus der Wohnung!«

      Vom Balkon beginnend, würde gleich der vordere Teil der Wohnung brennen. Sie schnappte sich das schlafende Kind und zog das heulende, das noch auf dem Klo saß, mit ins Treppenhaus. Wo waren die Flammen? Sie musste die Nachbarn warnen. Sie klingelte an der Wohnung nebenan Sturm, niemand öffnete, das Kind an der Hand schrie, das andere auf ihrem Arm inzwischen auch, sie stolperten eine Treppe tiefer. Die Tür wurde geöffnet. Die Nachbarin schimpfte, was denn da los sei. Ob sie die Polizei rufen solle, das könne sie gern tun.

      »Was ist denn, wo soll hier was brennen?«, fragte ein Mann in Unterhose, der neben der Nachbarin ins Treppenhaus trat.

      »Auf meinem Balkon. Das geht so schnell. Gleich brennt hier alles. Die Kinder müssen erst mal in Sicherheit.« Sie stockte. Überlegte. Sagte schnell: »Ich glaube. Ich habe es nicht gesehen. Das heißt also, vielleicht brennt es. Es gibt diese Möglichkeit. Ich habe geraucht. Ich schaue jetzt nach. Setzt euch kurz hier hin.«

      Der Kleine war gerade wieder eingeschlafen, ein warmer Sack auf ihrem Arm, jetzt schrie er, als sie ihn weckte, um ihn auf die Treppe zu setzen. Sie konnte ihn doch nicht in den Brand mitnehmen. Und zu der Nachbarin auf den Arm, das hatte sie schon mal probiert, wollte er auf keinen Fall, er wollte nie auf einen fremden Arm, da waren schon einige Leute beleidigt gewesen, die ihr helfen wollten.

      »Ich komm mit. Mama! Ich komme mit!« Ihre Tochter krallte ihre Hand. Der Kleine brüllte: »Mit! Mit!« So viel Geschrei, überall. Sie schloss die Augen. Nur Rauch war nicht zu riechen. Langsam ging sie mit den beiden zurück in die Wohnung. Schritt für Schritt. Sie konnten jederzeit wieder umdrehen und wegrennen. Nein. Es brannte nicht. Der Joint im Aschenbecher auf dem Balkon war aus. Sie berührte ihn. Er war kalt.

      Die Panikanfälle wurden schlimmer. Meistens hatte sie Angst vor Feuer. Sie konnte sich nicht mehr ins Bett legen, immer wieder stand sie auf und kontrollierte den Aschenbecher, hielt Ausschau nach Rauch, nach versteckten Brandherden.

      Oder sie dachte, sie hätte die Tür offen gelassen und es käme jemand herein, der ihr die Kinder wegnähme. Sie legte sich auf den Boden, irgendwo zwischen Balkon und Wohnungstür. Sie musste aufpassen. Sie wäre bereit, sofort zu reagieren. Sie konnte aber nicht einschlafen, weil sie immer noch einmal aufs Klo musste. Direkt nach dem Pinkeln noch ein zweites Mal. Für die Eventualität. Denn wenn sie einschliefe, müsste sie später so stark, dass sie nicht mehr aufstehen könnte, derart kurz davor wäre, zu platzen, es nicht mehr kontrollieren könnte, nicht mehr in der Lage wäre, zu den Kindern zu gehen, wenn die nach ihr riefen. Und so fürchtete sie sich schon, bevor sie einschlief, so sehr vor dem Aufwachen, dass sie lieber jetzt noch ein letztes Mal aufstand und alles an Flüssigkeit aus sich herauspresste. Sie fühlte sich ein bisschen geschwächt von dem Joint. Und trotzdem schob sie ihren übermüdeten Körper vor dem Einschlafen an der Wand entlang in Richtung Badezimmer und wieder zurück, das Blaseninnere permanent abhorchend. Sie musste versuchen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Bloß nicht ans Pinkeln denken. Aber auch nicht an Herbert. Viel blieb nicht übrig. Sie hielt sich an Naturbilder. Ein Wald, der steil ansteigt, Moos, sie erklimmt eine Wiese voll Seegras, das wogt und sie in sich saugt. Riesige Blumen umschlingen sie und tragen sie auf ihren Blüten.

      Sie zieht die Nase kräftig hoch, wischt sie mit einer frischen Serviette ab und fragt noch einmal.

      »Wann sind sie denn los, heute Morgen?«

      »Das war nicht heut früh. Das war gestern.«

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