Essen und Ernährungsbildung in der KiTa. Kariane Höhn
für Entwicklung, Sozialisation und Erziehung des Kindes.
Diese enge Verbindung von Erziehung und Ernährung zeigt sich auch in den Sprachen: In vielen europäischen Sprachen wurden Ernährung und Erziehung synonym verwendet, sie bedeuteten zunächst dasselbe: Kinder benötigen die Nahrung für »Geist und Seele« ebenso wie für die Entwicklung des Körpers, und die Entwicklung von Körper und Geist bedarf der Pflege (Seichter, 2012, 2014a). Und diese enge Beziehung zwischen Ernährung und Erziehung findet sich heute noch, wenn z. B. Hunger und Durst auch auf Bildung und Wissen bezogen werden: Kinder werden mit Wissen »gefüttert« und »gefüllt«, sie »dürsten nach Wissen« (s. Seichter, 2014a, S. 3 f.).
1.1 Ernährung und Entwicklung – Der Mensch ist, was er isst
1.1.1 Kinder müssen essen und lernen zu essen
Essen, eine der selbstverständlichsten Handlungen im Alltag, ist auch ein zentraler Lernbereich. Dies zu erkennen, ist nicht selbstverständlich, denn essen, das tun alle, jeden Tag, mehrfach. Essen ist ein menschliches Grundbedürfnis: Ohne Nahrung ist kein Überleben, keine Leistungsfähigkeit und für Kinder keine Entwicklung möglich. Essen ist daher – oder dennoch – eine Alltagshandlung, die nach Vorstellung vieler keiner besonderen Anleitung bedarf.
Kinder müssen jedoch lernen zu essen: Anders als manche Tiere, die dies sofort ohne Hilfe können, müssen Menschen erst die körperlichen Voraussetzungen entwickeln und üben, sie zu nutzen. Zudem müssen sie lernen, zu unterscheiden, was (insbesondere für sie selbst) verträglich ist und was aus physiologischer Perspektive sozusagen guttut. Von Beginn des Lebens an lernt ein Kind, »Geschmack zu finden«. Es lernt, aus der prinzipiellen Vielfalt und dem konkreten Angebot der Möglichkeiten zu wählen und dem Rhythmus seines Essalltags zuzuordnen. Vermutlich war die Auswahl an Nahrung in der Menschheitsgeschichte meist begrenzt, und die Mehrzahl der Menschen musste eher den Kampf gegen den Hunger führen. Heute umfasst Ernährungsversorgung in Westeuropa vorrangig den Umgang mit einer Vielfalt, die gleichzeitig Ernährungssicherheit ermöglicht, aber auch zu ernährungsbedingten Problemen führen kann. Sich diesen Herausforderungen kompetent zu stellen, ist wichtig, denn rein physisch kann der Körper nur aus dem auf- und umgebaut werden, was ihm an Nahrung zugeführt wird. In diesem Sinne ist der Mensch, was er isst. Die daraus erwachsende Verantwortung muss für Kinder von den jeweils verantwortlichen Erwachsenen übernommen werden.
Was Kinder wann und wie essen, beschäftigt von jeher vor allem diejenigen, die – meist in der Familie – dafür verantwortlich sind, das Kind ins Leben zu begleiten, für seine Versorgung, Erziehung, Bildung und Betreuung zu sorgen.
Seit im 19. Jahrhundert die naturwissenschaftliche Forschung zur Ernährung begann, wurden aus den Ergebnissen allgemeine Vorgaben zur »richtigen« Ernährung abgeleitet, auch Forderungen zur Ernährung der Kinder. Heute verfügen wir in der »westlichen Welt« über ausdifferenzierte Empfehlungen und zahlreiche Nahrungs- bzw. Lebensmittel1 zur optimalen Ernährung der Kinder. Die öffentliche Diskussion darüber, welche Ernährung für Kinder »gut« und welche »schlecht« ist, repräsentiert einerseits die Entwicklung der Wissenschaft und die Zunahme des allgemeinen Wissens. Andererseits belegen die unterschiedlichen Diskurse auch, welche Verunsicherungen durch Informationen zur Gefährdung, zu Skandalen und zu Irrungen und Wirrungen durch neue »Giftwarnungen« und »Heilslehren«, die durch unterschiedliche Medien »geistern«, hervorgerufen werden.
1.1.2 Essen und Ernährung – Wollen und Sollen
Essen und Ernährung – diese beiden Begriffe spiegeln, wie der Ernährungspsychologe Pudel (2002a) feststellt, zwei grundlegende Konnotationen zum Essen wider:
1. Das alltägliche Essen: Dieses alltägliche Essen wird vor allem als »privat« erlebt, d. h. als ein – zumindest aus subjektiver Sicht – zentraler, wenn nicht gar einzig verbliebener Bereich der Selbstbestimmung. Dabei ist alltägliches Essen durch unterschiedliche Ziele und Bedingungen bestimmt, es ist eine Quelle von Lust und Genuss und folgt physischen, psychischen und sozialen Bedürfnissen, Motiven und kulturell bestimmten Regeln.
2. Die Ernährung: Ernährung ist die (idealerweise) bewusste Zufuhr von Lebensmitteln, die der Körper benötigt. Oder anders formuliert: Mit Ernährung wird von den meisten Menschen die Zufuhr der lebenswichtigen Nährstoffe bzw. Lebensmittel und damit das »richtige« Essen verstanden, das auch den jeweils präferierten Erkenntnissen und Empfehlungen der Fachgesellschaften oder anderen Vorstellungen von »richtigem Essen« entsprechen sollte.
Ernährungsempfehlungen stellen so auch einen »öffentlichen Eingriff« in das »private Leben« dar. Gleichzeitig bieten sie Hilfe zur Orientierung und Prävention und sie können – im Falle von Krankheiten – ggf. auch Teil einer Therapie sein.
Essen und Ernährung spiegeln im Alltag also den Widerspruch zwischen Wollen (»lecker«) und Sollen (»gesund«), zwischen privat und öffentlich. Dieser Widerspruch kann dazu führen, dass auch dort, wo sich Kinder in einer öffentlichen Institution wie einer Kindertageseinrichtung (im Folgenden KiTa)2 den Tag über aufhalten und davon abhängig sind, wie sie dort betreut und versorgt werden, die volle Verantwortung für ihre Ernährung dennoch meist der Familie zugeschrieben wird.
Für den Widerspruch zwischen »Sollen und Wollen« gibt es inzwischen nicht nur differenzierte Erklärungen, sondern auch Lösungswege, genau genommen sogar einfache und gesellschaftlich gesehen preiswerte Lösungswege: Wenn Kinder von Beginn an das essen, was für sie gut ist, und dazu auch Vorbildern folgen können, dann lernen sie dies als schmackhaft zu werten und als »ihr Essen« in ihre Essbiografie einzuordnen. Wenn sie in zwei Esskulturen aufwachsen, werden sie beide akzeptieren. Die KiTa ist also ein idealer Ort, um Kinder über das angebotene Essen daran zu gewöhnen, was sinnvoll und förderlich für ihre Entwicklung ist: Denn KiTa-Mahlzeiten sind zentrale Institutionen3 einer Ess-Enkulturation und -Sozialisation, die der Entwicklung der Kinder dienen kann – sofern die Qualität stimmt.
1.1.3 »Is(s)t KiTa gut«? – Bisher noch nicht genug
Ein großer Teil der Kommunen, Träger und schlussendlich der KiTas selbst hat das Angebot einer gesundheitsförderlichen Ernährung als Beitrag zur Ess-Sozialisation noch nicht als zentrale Aufgabe entdeckt. Die von Arens-Azevêdo und ihrem Team durchgeführten Erhebungen »Is(s)t KiTa gut?« (Arens-Azevêdo et al., 20144) und »Verpflegung in Kindertageseinrichtungen« (VeKiTa) (Arens-Azevêdo, 2016; Arens-Azevêdo et al., 2016b5) brachten leider zu wenig Erfreuliches zutage: Auf jeder Ebene der Ernährungsversorgung, angefangen von den Speiseplänen über die Professionalität der Verantwortlichen bis zu den räumlichen Rahmenbedingungen, entspricht die bundesdeutsche Realität des Essens in der KiTa meist nicht den Erfordernissen des Kindeswohls.
Im März 2015 gab es bundesweit 54 536 Tageseinrichtungen, in denen ca. 2,86 Mio. Kinder unter 7 Jahren betreut wurden. Von diesen erhielten ca. 2,01 Mio. eine Mittagsverpflegung. Die Altersgruppe der unter 3-Jährigen (auch Krippenkinder genannt) spielt eine immer größere Rolle: Allein 593 639 der Kinder in Tageseinrichtungen sind in dieser Altersgruppe zu finden. (Arens-Azevêdo et al., 2016b, S. 103)
Beide Studien zeigten, dass weder alle Kinder für die Zeit des Besuches die von Fachgesellschaften empfohlene Abfolge der »kalten« (wie Frühstück) und »warmen« (wie Mittagessen) Mahlzeiten geboten bekamen, noch war eine ausreichende Versorgung mit Nähr- und Wirkstoffen gewährleistet, wobei vor allem das Angebot an Obst und Gemüse (auch als Frischkost) zu gering und das an Fleisch(erzeugnissen) zu hoch war. Die personelle Ausstattung, die räumlichen Bedingungen und die Sicherung der Hygienestandards ließen nach wie vor zu wünschen übrig. DGE-zertifizierte KiTas6