Orientierung finden. David Steindl-Rast
großen Welttheaters, auf der das Stück schon seit Jahrtausenden läuft. Und denken wir an unsre Stärken und Schwächen, unsre ererbten Begabungen und Unzulänglichkeiten. Ganz gleich, wie wir mit ihnen umgehen, werden sie jedenfalls die Möglichkeiten und Grenzen unsrer Improvisation weitgehend mitbestimmen. Die Erfüllung unsrer Aufgabe, „gut zu spielen“, kann also nicht vom Instrument abhängen, auf das wir ja keinen Einfluss haben. Sie muss davon abhängen, wie „gut“ wir es spielen.
Woran kann ich aber erkennen, dass ich meine Rolle gut spiele? Was heißt hier „gut“? Die Antwort ergibt sich aus dem, was wir über das Selbst gesagt haben: Sie lautet: Du musst als „Du selbst“ spielen. Wie gut wir „unsre Rolle im Leben spielen“, hängt nicht von unsrer Veranlagung ab, sondern davon, dass unser Ich immer transparenter wird für das Selbst. Das bedeutet auch, dass wir uns dessen bewusst bleiben, dass wir – die Spieler – alle ein Selbst sind. Und dass wir unsre gegenseitige Zugehörigkeit durch unsre Art zu spielen bekräftigen. Dann wird unser Spielen – alles, was wir tun – ein „gelebtes Ja zur Zugehörigkeit“ ausdrücken. Das aber ist genau unsre Definition von Liebe. Wenn du darüber nachdenkst, wirst du finden, dass Liebe in all ihren authentischen Formen „das gelebte Ja zur Zugehörigkeit“ ist. „Unsre Rolle gut zu spielen“, heißt also, durch alles, was wir im Leben tun, Liebe auszudrücken.
Das entspricht der Forderung, die wir in jeder Form von Spiritualität wiederfinden und die in der jüdisch-christlichen im allbekannten Gebot ihren Ausdruck findet: „Liebe deinen Nächsten als dich selbst!“ (Lev 19,18). Nicht „wie dich selbst“ lautet es, sondern „als dich selbst“ – da dein Selbst ja auch das Selbst deines Nächsten ist. In jedem unsrer Mitspieler begegnen wir unsrem gemeinsamen Selbst – auch in unsren Feinden. Daher ist „Liebe deine Feinde“ (Mt 5,44) keine widersprüchliche Zumutung. Zum Beispiel 23 bleiben alle, die den Regenurwald zerstören, meine Feinde, obwohl ich als Christ sie lieben will. Würde Liebe alle zu Freunden machen, dann könnte ich ja niemals Feinde lieben. Meine Liebe wird sich daran zeigen, dass ich zwar alles tue, um ihren Bemühungen entgegenzuwirken und es ihnen unmöglich zu machen, Schaden anzurichten, ihnen aber gleichzeitig den Respekt erweise, der jedem Menschen gebührt, und sie so behandle, wie ich selbst behandelt werden möchte, wenn unsre Rollen vertauscht wären. Inmitten meiner tatkräftigen Opposition darf ich niemals vergessen, dass das Selbst meiner Feinde mein Selbst ist.
Es gibt nur ein Selbst. In dem Ausmaß, in dem wir diese Tatsache aus dem Bewusstsein verlieren, ist uns auch nicht mehr bewusst, dass letztendlich das Selbst alle Rollen spielt. Wenn ich das vergesse, werde ich wie ein Schauspieler, der sich so in seine Rolle verliert, dass er sich am Ende nicht mehr von der Rolle unterscheiden kann. Wenn dies geschieht, hat mein Ich mein Selbst vergessen. Wir nennen das Ich, das seine Beziehung zum Selbst verloren hat, das Ego.
DAS EGO – WENN DAS ICH DAS SELBST VERGISST
Ego ist das lateinische Wort für „Ich“, aber wir werden es mit einer negativen Bedeutung verwenden, weil wir ein Wort brauchen für eine Fehlform des Ich. Auch im oft gebrauchten Wort „egoistisch“ ist Ego negativ belastet. Das „Ich“ wird zum Ego durch einen Prozess des Vergessens. Je mehr ich mein Selbst vergesse, das mich mit allen andren verbindet, desto einsamer und ganz auf mich allein gestellt muss ich mich fühlen. Mein „Ich-Selbst“ schrumpft mehr und mehr zum Ego zusammen, bis ich mein Selbst fast völlig vergessen habe. Ganz vergessen können wir es nie, aber darüber später mehr.
Im Europakloster spielen wir Mönche einmal im Monat nach dem Sonntagsgottesdienst für die Kinder Kasperltheater. Da kann es vorkommen, dass einer der Brüder mit einer Hand das Krokodil spielt, mit der andren die vom Krokodil bedrohte Prinzessin. Wenn wir uns in die Prinzessin hineindenken, wird es uns gewiss Zuversicht schenken, das zu wissen. Wir werden zwar Angst haben vor dem Krokodil, werden aber dem Puppenspieler vertrauen, der uns beide spielt. Aber eine Puppe, die den Puppenspieler vergisst, muss sich als eine leere Haut fühlen, umgeben von unzähligen andren, von denen einige alles andre als freundlich zu sein scheinen. Sie wird also Angst bekommen. Wenn wir vergessen, dass das eine Selbst uns innerlich verbindet, ist Angst fast unvermeidlich. Das Ego sträubt sich voller Furcht* gegen diese Angst*. Furcht aber ist die Ursache für alles, was im Welttheater schiefgeht.
Furcht macht das Ego aggressiv. Dann sucht es Sicherheit, indem es Macht über andre zu erlangen sucht; danach strebt, sich über alle andren hochzuarbeiten, andre zu unterdrücken und sie auszunutzen. Auch wird das Ego ein Gefühl des Mangels nicht los. Aus Furcht, dass nicht genug für alle da ist, wird das Ego gierig, geizig und neidisch. Es hat seine Einbettung in ein größeres Ganzes verloren und ist zum Mittelpunkt geworden, um den sich nun all sein Denken und Streben dreht. Es verstrickt sich immer mehr in eine von Furcht getriebene Gesellschaft, in der Ego auf Ego prallt, eine Gesellschaft – leider unsre eigene! – gekennzeichnet durch Machthunger, Gewalttätigkeit, Gier und Ausbeutung, und all das aus Furcht!
Wie kann das Ego aus dieser Verirrung und Verstrickung heimfinden in die rechte Beziehung zum Selbst? Die Antwort liegt auf der Hand: Aus Vergesslichkeit und Furcht hat es sich verirrt, durch das Gegenteil – also durch Achtsamkeit* und Vertrauen* – kann es den Heimweg finden. Auch das zum Ego gewordene Ich kann ja das Selbst nie ganz vergessen. Es kann also umkehren und heimkehren. Im innersten Herzen des Egos schläft sie nur, die Erinnerung an das Selbst.
Wir können zusammenfassen: Das Ego ist nichts andres als das Ich, aber ein krankes Ich, zusammengeschrumpft, weil es sein weites, allumfassendes Selbst aus dem Bewusstsein verloren hat. Daher hat es auch seine Verbundenheit mit allen andren vergessen und alle echten Beziehungen verloren. Nur durch Beziehungen aber finden wir Sinn* und Orientierung im Leben. Und alle Beziehungen beginnen mit der Beziehung zum Du.
IMMER DU – DENN ALLES LEBEN IST BEZIEHUNG
Die Erkenntnis, dass ich von Anfang an in ein Beziehungsnetz eingebettet bin, bereitet mich auf eine wichtige Einsicht vor: Schon das Wort „Ich“ drückt Beziehung* aus. Es wäre sinnlos, „Ich“ zu sagen, wenn ich dadurch nicht von einem Du unterschieden und zugleich auf dieses Du bezogen wäre. In meiner Umwelt begegnen mir andre, jeder das einzige Ich für sich selbst, jeder ein andres Du für mich. Da draußen begegnet mir unzählige Male ein mir noch unbekanntes kleines Du, in meinem Inneren erlebe ich jedoch darüber hinaus ein einziges, mir von Anfang an bekanntes großes Du – nicht zusätzlich zu all den kleinen Formen des Du, sondern irgendwie sie alle umfassend. Leidenschaft für ein menschliches Du erweist ihre Echtheit und Tiefe dadurch, dass sie zugleich – nicht zusätzlich! – auf das große Du gerichtet ist. Das gilt auch vom leidenschaftlichsten Liebesgedicht des Dichters Rainer Maria Rilke (1875–1926):
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehen,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.
Dass hier wirklich beide Du-Ebenen gemeint sind, beweist die Tatsache, dass Rilke diese Zeilen für Lou Andreas-Salome, die große Liebe seines Lebens, schrieb, sie aber kurz darauf in sein „Stundenbuch“ aufnahm – als Gebet.
Von Anfang an ist es dieses letztgültige Du, welches es mir möglich macht, im vollen Sinne „Ich“ zu