Nesthäkchen und ihre Enkel. Else Ury
als ich mit euch hinüberfahren wollte – zur silbernen Hochzeit der Großeltern war's –, da zähltet ihr erst wenige Monate, und der Arzt fürchtete wohl mit Recht den Klimawechsel für euch. Bald darauf starb der Großvater Tavares. Die Last des vielverzweigten Kaffee-Exports lag auf den Schultern eures Vaters. Er konnte nicht monatelang dem Geschäftsbetrieb fernbleiben. Und mich so lange missen, wollte er noch weniger. So ward es von Jahr zu Jahr verschoben. Dann erschien Juan, unser kleiner Nachkömmling. Und wieder vergingen die Jahre. Zu Beginn eines jeden nahmen wir uns vor, in diesem Sommer geht es bestimmt hinüber. Stets kam etwas dazwischen. Die Großeltern in Lichterfelde sind alt geworden bei dem ständigen Hoffen und vergeblichen Harren. Wer weiß, ob man sie nochmal wiedersieht.« Solch mutlose Kundgebung ihrer Heimatssehnsucht war sonst gar nicht Frau Ursels Sache.
Die Töchter waren denn auch bestürzt und erschreckt.
»Aber Mammi, liebe, kleine Mammi, nun dauert es doch gar nicht mehr lange, dann fährst du mit uns zu den Großeltern nach Deutschland. In kurzem ist Weihnachten – gleich nach Ostern reisen wir. Das ist gar nicht mehr lange hin.« Wenn es galt, ihre Mammi wieder froh zu machen, wurde Marietta ebenso lebhaft und beredt wie ihre Zwillingsschwester.
»Wenn ich nur mal erst wieder Nachricht hätte. Die Großmutter schreibt sonst so regelmäßig alle zwei Monate. Aber nun ist schon ein Vierteljahr seit ihrem letzten Brief vergangen. Hoffentlich ist drüben alles gesund.«
Aus dem dunklen Grün der Anpflanzungen tauchten die hellen, breitränderigen Farmerhüte der Plantagenarbeiter auf. Kauernde Gestalten richteten sich bei dem nahenden Hufschlag von der Arbeit empor und grüßten die Vorüberreitenden ehrerbietig. Dunkle und hellfarbige Gesichter, schwarze und blaue Augen. Es war ein Gemisch der verschiedensten Nationalitäten und Rassen.
Das Sommerhaus der Janqueiras war erreicht. Es lag landschaftlich schöner als das Tavaressche, dem Gebirge näher. Aber der Bau wirkte geschmacklos und überladen protzig. Schwarze Diener halfen den Damen beim Absteigen. Man führte sie in den Salon. Auch dort zeigte sich Mangel an verfeinertem Geschmack. Sofa und Sessel waren mit weißen Leinenüberzügen verhängt. Margarida hatte das in einem Berliner Schloß bei ihrem europäischen Aufenthalt gesehen und ließ sich nicht davon abbringen, dies besonders vornehm zu finden. Die Krone war von einem graublauen Papierlampenschirm verhängt. Die Vasen schmückten bunte Papierblumen. Die Kinder kannten den Salon der Großmutter Tavares nicht anders, wenn sie auch den Unterschied von dem eigenen Heim herausfühlten. Ursel aber gab es stets einen Stich ins Herz, sooft sie den geschmacklosen Raum betrat.
»Ah, ihr seid es – willkommen – willkommen!« Die Schwiegermutter, noch heute Spuren ehemaliger Schönheit verratend, begrüßte in ihrer lebhaften italienischen Art Schwiegertochter und Enkelinnen, sie nach Landessitte auf die Wangen küssend. »Kommt ins Schlafzimmer, da ist es gemütlicher.« Sie schritt den dreien voraus.
Auch daran hatte sich Frau Ursel gewöhnen müssen, daß man hier in Brasilien gute Freunde und Anverwandte im Schlafraum empfing. Auf den Betten nahm man Platz, die nur Matratze, Leinentuch und ein Paradekissen, das am Tage zum Schmuck lag und zur Nacht fortgenommen wurde, zeigten. Das Moskitonetz, das wichtigste Utensil in den Tropen, war zurückgeschlagen.
Auch Donna Margarida erschien, erfreut über den lieben Besuch. Sie war nicht mehr zierlich und graziös wie ein Püppchen, sondern war von den vielen Süßigkeiten und dem Schlaraffenleben, dem sie huldigte, etwas in die Breite gegangen.
Man saß auf den Betten. Farbige Diener brachten Eis und Früchte. Frau Ursel mußte über alle Bekannte in Sao Paulo Bericht erstatten. Denn die beiden anderen Damen waren schon über einen Monat aus der Stadt entfernt, und der Klatsch spielte dort eine wichtige Rolle. Anita verstand es besonders, die Ereignisse in humoristischer Weise darzustellen. Die Großmutter, deren erklärter Liebling sie in ihrer südländischen Lebhaftigkeit und Schönheit war, strahlte, und auch Tante Margarida bildete ein dankbares Publikum. Frau Ursel aber mochte das Herziehen über den lieben Nächsten nicht, ebensowenig, daß ihr ohnedies schon genügend selbstbewußtes Töchterchen derart den Mittelpunkt bildete. Sie unterbrach Anitas amüsante Beschreibung: »Nita, du läßt heute dein Lästermündchen wieder mal abschnurren. Nun ist es genug. Gehe mit Jetta lieber in den Garten.«
Marietta sprang erfreut auf, sie langweilten diese Berichte, geradeso wie ihrer Mutter. Anita aber zog ein Mäulchen.
»Jetta und ich wollen lieber eine Stunde reiten.« Ohne die Schwester zu fragen, nahm Anita es als selbstverständlich an, daß diese ihren Wunsch teilte. War Marietta doch immer nachgiebig und fügsam.
»Aber nicht weiter als bis zur Schlucht, Kinder. Pedro oder Diego reitet natürlich mit euch mit.«
Die jungen Mädchen verabschiedeten sich. Bald darauf sah man die Silberfüchse im Trab durch die Plantagen sprengen. Der schon etwas steifknochige Neger Diego konnte kaum hinterdrein.
»Ah, das tut gut, Jetta, nach dem langen Stillsitzen.« Anitas schwarze Locken wehten. Wie eine junge Amazone flog sie dahin.
Auch Marietta war eine gute Reiterin, nur war sie in all ihren Bewegungen ruhiger. Aus ihren dunklen Augen sprühte ebenfalls die Freude an dem herrlichen Sport.
»Ein Wettritt, Jetta«, schlug Anita vor. »Wer zuerst bei der großen Kokuspalme an der Schlucht ist. Der Graben wird als Hindernis genommen. Eins – zwei –«, bei »drei« sauste sie schon davon.
Die Schwester folgte im Abstand einer Pferdelänge. Da hemmte Marietta plötzlich den Galopp. War da nicht irgendwo ein Weinen erklungen? Ein Zügelruck brachte den Gaul zum Stehen. Scharfen Auges spähte das junge Mädchen in den grünen Wellen der Kaffeesträucher, die den Weg besäumten, umher. Halt – da schimmerte ein rotes Röckchen.
Unter einem nur wenig Schatten spendenden Gummibaum kauerte ein kleines etwa siebenjähriges Mädchen. Blonde, wirre Haarsträhnen fielen über die sonnengebräunten Händchen, welche die Kleine vor das Gesicht geschlagen hatte. Der schmächtige Kinderkörper zuckte in ruckweisem Schluchzen.
Im Nu war Marietta vom Rücken des Pferdes herabgeglitten. Sie trat zu dem weinenden Kinde und legte ihm mitleidig die Hand auf den Kopf. »Warum weinst du, Kleine?« fragte sie in der portugiesischen Landessprache.
Das Kind ließ die Hände von dem verweinten Gesicht sinken und sah erstaunt zu dem vornehmen Mädchen auf. Es antwortete nicht.
»Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?« drang Marietta in die Kleine.
Das Kind schüttelte den Kopf. Es begann von neuem zu schluchzen.
Ratlos stand Marietta vor dem kleinen Findling. Ihrem weichen Herzen schien es unmöglich, davonzureiten und das Kind seinem Schmerze zu überlassen.
»Diego, reite weiter zu Donna Anita und sage ihr, daß ich gleich nachkomme«, gab sie dem alten Neger Weisung. Dann wandte sie sich wieder dem weinenden Blondköpfchen zu.
Ein Gedanke kam ihr. Sollte das Kind am Ende ihre Frage nicht verstehen? Es hatte so verständnislose Augen gemacht. Ein Kind der Tropen war es sicher nicht. Aber in welcher Sprache versuchte sie es?
»Warum weinen du, Kind?« Die deutschen Laute, auf welche Marietta die Liebe für ihre Mutter übertrug, kamen ihr ganz von selbst auf die Lippen. Im Gegensatz zu Anita, die stets dagegen Front machte. Das Kind hob jäh den Kopf. Aus den verweinten Blauaugen kam ein Lächeln. »Ich habe Hunger, und Mutter ist krank«, sagte es in deutscher Sprache.
»Armes Kind!« Zum erstenmal begegnete dem reichen, im Luxus aufgewachsenen Mädchen jemand, der Hunger litt. Hatte sie denn gar nichts, denselben zu stillen? Entsetzlich mußte es sein, hungern zu müssen.
Das junge Mädchen griff in die Tasche des Reitkleides. Da – das Stück Schokolade, das sie stets beim Ausreiten bei sich trug, würde den Hunger stillen.
Das Kind verschlang die Süßigkeit gierig.
»Nun du nicht hast Hunger mehr?« erkundigte sich Marietta freundlich.
»Mächtigen Hunger«, dabei blieb das Kind. »Ich habe heute nur zwei Bananen gegessen.«
»Kochen ihr keine schwarzen Bohnen?« Das war