Das Elend der Medien. Michael Meyen
Wenn hier von Elend gesprochen wird, ist damit nicht das große situationsbedingte Leid gemeint (»Es gibt schlimmeres, weißt du«), sondern das positionsbedingte, das sich aus der Stellung des Individuums im sozialen Raum ergibt. Man kann sich das positionsbedingte Leid am Beispiel eines Kontrabassisten vorstellen. Sein Orchester zählt vielleicht zu den prestigeträchtigsten des Universums, er selbst jedoch hat eine niedere, unbedeutende Stellung. Je höher das Orchester im Ansehen steigt, desto größer kann der Schmerz sein. Wer die große Not zum Maßstab macht, meint Bourdieu, versagt sich nicht nur, das kleine Leiden wahrzunehmen, sondern versteht auch nicht die soziale Ordnung, »die zwar einiges der großen Not zurückgedrängt hat, aber die Entwicklung aller Formen der kleinen Nöte auch begünstigt.«173
Bei drei der vier hier vorgestellten Frames zum ›Elend der Medien‹ geht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinen Reden mit. Desinformation: Steinmeier warnt vor der Zersetzung der Demokratie durch autoritäre Kräfte im Netz und plädiert für Qualitätsjournalismus. Kommerzialisierung: Er problematisiert die Logik der Plattformökonomie und ermahnt Journalisten, sich an Relevanz zu orientieren und nicht an Klicks. Mainstream: Er beobachtet den Konformitätsdruck unter Journalisten sowie ein enges Meinungsspektrum und wünscht sich deshalb mehr Vielfalt in der Berichterstattung.
Nicht thematisiert hat Steinmeier den Frame des Dritten Wegs. Als Bourdieu sich 1999 mit Günter Grass über Das Elend der Welt unterhielt,174 wurde Steinmeier gerade Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder. Grass erkannte damals ein Problem für die europäische Aufklärung, wenn Vernunft auf das »rein technisch Machbare« reduziert wird. Bourdieu sah den Prozess der Aufklärung in diesem Gespräch durch die politischen Kräfte des Neoliberalismus bedroht. Steinmeier wurde dann ›Architekt‹ der deutschen Reformen und betrieb damit in Bourdieus Worten einen »Machtmissbrauch im Namen der Vernunft«. Das homologe grün-rote journalistische Milieu vollzog die neoliberale Wende mit und beklagt heute das postfaktische Zeitalter. Blickt man auf Bourdieus Konzeption des Sozialraums, dann lässt sich theoretisch sagen: Unsere Demokratie ist nicht von ›rechts-unten‹, sondern von ›links-oben‹ gefährdet. Und was sagt die Empirie?
1Vgl. Franz Schultheis: Editorische Vorbemerkung zur Erstausgabe. In: Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Studienausgabe. Konstanz: UVK 1997, S.12f, hier 12
2Vgl. Patrick Champagne: Die Sicht der Medien. Ebd., S. 60-68
3Vgl. Franz Schultheis: Deutsche Zustände im Spiegel französischer Verhältnisse. Ebd., S. 430-439, hier 437
4Vgl. Franz Schultheis: Vorwort zur Studienausgabe. Ebd., S. 9-11, hier 9
5Vgl. Günther Grass, Daniela Dahn, Johano Strasser: In einem reichen Land. Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Göttingen: Steidl 2002
6Vgl. Franz Schultheis, Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz: UVK 2005 (seit 2017: Köln: Herbert von Halem)
7Vgl. Shirin Sojitrawall: »Was uns wütend macht«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Februar 1998
8Vgl. Schultheis, Schulz: Gesellschaft mit beschränkter Haftung, S. 10
9Pierre Bourdieu: Die Abdankung des Staates. In: Das Elend der Welt, S. 117-134, hier 128
10Vgl. Pierre Bourdieu: Gegenfeuer. Konstanz: UVK 2004, S. 55. – Siehe auch: Anthony Giddens: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999
11Vgl. Pierre Bourdieu: Der Lauf der Dinge. In: Das Elend der Welt, S. 69-86
12Pierre Bourdieu: Die Abdankung des Staates. Ebd., S. 129
13Vgl. Michel Pialoux: Der alte Arbeiter und die neue Fabrik. Ebd., S. 302-310
14Vgl. Pierre Bourdieu: Ein verlorenes Leben. Ebd., S. 258-268
15Vgl. Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2013. – Siehe auch: Wolfgang Merkel (Hrsg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden: Springer VS 2015
16Stephan Lessenich: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem. Ditzingen: Reclam 2019, S. 10
17Vgl. Colin Crouch: Postdemokratie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004
18Lessenich: Grenzen der Demokratie, S. 11
19Vgl. Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Hamburg: Murmann 2015
20Vgl. Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hrsg.): Kursbuch 170 – Krisen lieben. Hamburg: Murmann 2012
21Zitiert nach: Jens Wolling: Zur Logik der Mediamalaise-Forschung. In: Werner Wirth, Andreas Fahr, Edmund Lauf (Hrsg.): Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft. Band 2: Anwendungsfelder in der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2006, S. 243-263, hier 249
22Vgl. Michael J. Robinson: Public Affairs Television and the Growth of Political Malaise. In: American Political Science Review 70. Jg. (1976), S. 409-432
23Wolling: Zur Logik der Mediamalaise-Forschung, S. 249
24Vgl. Siegfried Weischenberg: Medienkrise und Medienkrieg. Wiesbaden: Springer 2018
25Vgl. Lessenich: Grenzen der Demokratie, S. 10-12
26Vgl. Pierre Bourdieu: Post-Scriptum. In: Das Elend der Welt, S. 427-429, hier 427