Das Elend der Medien. Michael Meyen
Was Entman »Frame« nennt, ist bei Bourdieu ein Standpunkt über die »legitime Sichtweise über die Dinge«. Anders als bei Entman schweben die Deutungsmuster hier nicht im »luftleeren Raum«42, sondern sind an Feldpositionen gebunden. Entman macht über die vier Frame-Sequenzen klar, wie eine »legitime Sichtweise« analysiert werden kann.
In der Soziologie von Pierre Bourdieu haben die Felder Politik, Wissenschaft und Journalismus eines gemeinsam: Alle drei Felder beanspruchen, über die legitime Sichtweise der Dinge zu verfügen. Mit ihren Konstruktionen der Wirklichkeit üben sie jeweils symbolische Macht aus. Die entsprechenden Kämpfe werden einerseits innerhalb der Felder ausgetragen und andererseits im sozialen Raum. Den Wettstreit um Deutungshoheit gewinnt, wer über das meiste ökonomische, kulturelle und soziale Kapital verfügt. Ein Standpunkt, der sich über die Feldgrenzen hinweg durchsetzt, gilt als orthodox. Es ist die Sichtweise der Wirklichkeit, die gesamtgesellschaftlich mindestens unbewusst als gesetzt gilt.43 Kurz: der orthodoxe Frame. Konkurrierende Sichtweisen in einer deliberativen Demokratie44 nennt Entman »counter frames«. Mit Bourdieu können die unterlegenen Standpunkte als heterodox oder als häretisch bezeichnet werden. Während es Vertretern von heterodoxen Sichtweisen darum geht, innerhalb einer bestehenden Ordnung mit ihrem Standpunkt eine höhere Position zu erlangen, wollen Häretiker die Kapitaldistribution insgesamt verändern.45
Ich nenne die Erzählung von Merkel-Macron-Steinmeier den orthodoxen Desinformations-Frame, weil sich diese Sichtweise über das Elend der Medien mit dem Mehrheits-Konsens in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft deckt. Stephan Ruß-Mohl spricht zum Beispiel von der »Pest der Desinformation«. Die ›Feinde‹ der informierten Gesellschaft sind in seiner Lesart »Populisten und Propagandisten«, die die Digitalisierung nutzen, um mit Fake News, Konspirationstheorien, Halb- und Viertelwahrheiten zu punkten oder Verwirrung zu stiften«.46 Wolfgang Schweiger verbindet die Ursache Desinformation mit dem Aufstieg von digitalen Plattformen und nennt als Probleme den Bedeutungsverlust journalistischer Nachrichten, eine sinkende politische Informiertheit, die schwache Diskursfähigkeit der Bevölkerung sowie eine Polarisierung der Gesellschaft.47 Diana Rieger versucht nachzuweisen, dass Internet-Propaganda rechtsextreme Positionen stärkt,48 Nikolaus Jackob sieht das Internet mit aggressiven Kommentaren und Verschwörungstheorien geflutet,49 und Thorsten Quandt befürchtet wegen der »Missinformation« im Netz gar eine »Populismus-Pandemie«.50 Diese Beispiele vom Machtpol der Kommunikationswissenschaft dürften hinreichend sein, um zu zeigen, dass hier der Frame ›Desinformation‹ vorherrscht. Mit Entman gedacht ist dies die Meta-Story, die sich mit leichter Varianz auf die moralische Bewertung einzelner Akteure überträgt.51 In einem solchen Deutungsprozess wird immer mindestens implizit bestimmt, wer die Guten sind und wer die Bösen.
In dem von 36 Forschern und Praktikern erstellten Handbuch Fake News, Framing, Fact-Checking steht die Argumentationskette zur moralischen Beurteilung gleich im Vorwort: Weil »nichtjournalistische Kommunikatoren« im Internet zum Sender »nachrichtlicher Informationen« werden, steigt die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Da sich Fake News erfolgreicher als seriöse Meldungen verbreiten, so heißt es im nächsten Kettenglied, führt das auch bei etablierten Medien zu einem Glaubwürdigkeitsverlust. Folge: »Lücken- und Lügenpresse-Vorwürfe« sowie pauschale Kritik an »Mainstream-Medien«, »Systempresse« oder »Staatsfunk«.52 Die Moral dieser Geschichte: Schuld sind ›nichtjournalistische Kommunikatoren‹. Böse. Gut sind dagegen traditionelle Medien.
Der Journalist und Soziologe Marcus Klöckner, den wir in diesem Buch ausführlich zu Wort kommen lassen, beobachtet im Feld des Journalismus einen tiefen Graben zwischen Vertretern großer Medien und ihren Kritikern auf den Plattformen des Gegendiskurses.53 In der orthodoxen Kommunikationswissenschaft wird diese Spaltung meist in den Gegensatz ›alternative‹ versus ›etablierte‹ Medien gegossen. ›Alternative Nachrichtenmedien‹ sind Thorsten Quandt zufolge Angebote, die sich als kritische Gegenstimme und Korrektiv zu journalistischen ›Mainstream-Medien‹ verstehen und vor allem online aktiv sind. In einem Aufsatz, der im April 2020 ohne Peer-Review veröffentlicht und von vielen Medien zitiert wurde, haben Quandt und sein Team Angeboten wie RT Deutsch, Sputnik, Compact oder den NachDenkSeiten vorgeworfen, in Sachen Corona Verschwörungstheorien zu verbreiten. Fazit: »Die Alternativmedien […] vermischen in ihren Veröffentlichungen das Leugnen des Klimawandels, die Flüchtlingskrise, Weltuntergangstheorien und das Coronavirus«.54 Diesen Befund kann jeder selbst prüfen und sich zum Beispiel die NachDenkSeiten ansehen. Man würde dann schnell sehen, dass es wenig Sinn macht, alle Alternativmedien und staatlich finanzierte Medien aus dem Ausland analytisch zu einer Kategorie zusammenzufassen.55 Der Frame allerdings ist in der Welt: gute Traditionsmedien, böse Alternative.
Glaubwürdigkeit als Kern-Merkmal journalistischer Qualität
Durch das orthodoxe Desinformations-Narrativ werden die Kriterien ›Vertrauen‹ und ›Glaubwürdigkeit‹ zum Goldstandard in der Beurteilung journalistischer Qualität. Die Glaubwürdigkeit des Journalismus sei »die Essenz unserer Demokratie«56 und Medienvertrauen eine »demokratische Notwendigkeit«,57 heißt es in der Kommunikationswissenschaft. Auch Bundespräsident Steinmeier machte Medienschaffenden bei einer Tagung zur politischen Streitkultur Mut (Zeitungen und öffentlicher Rundfunk würden in der Bevölkerung großes Vertrauen genießen, »bei gut 80 Prozent nach einer neuen Studie«)58 und weist damit den Weg, wie die Ergebnisse der entsprechenden Studien moralisch einzuordnen sind: Gut für die Demokratie sind hohe Werte.
Steinmeier kann sich auf einen Boom der quantitativer Glaubwürdigkeitsforschung stützen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten führen regelmäßig Umfragen durch, und in der Kommunikationswissenschaft stehen das Reuters Institute der Universität Oxford sowie die ›Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen‹ an erster Stelle. Das Mainzer Institut für Publizistik hat Steinmeier im März 2018 sogar besucht, um über Medienvertrauen zu diskutieren. Sein Urteil: »Hier wurde gute Arbeit gemacht, die gebraucht wird in der Demokratie.«59 Ergebnisse der Welle von 2019: Gut 40 Prozent der Befragten vertrauen den Medien und rund 30 Prozent nicht. Dazu kommen knapp 30 Prozent Unentschiedene. Damit sind die Zahlen seit 2016 »recht stabil«, was in den Pressemitteilungen als positive Nachricht für die ›etablierten Medien‹ kommuniziert wird. »Das Vertrauen in öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Tageszeitungen ist weiterhin hoch, die Werte für das Internet sinken«. Und: Nur bei »einer Minderheit verfestigt sich das Misstrauen gegenüber Medien«.60
Ist damit wieder alles gut in Deutschland? Hat sich das Elend der Medien erledigt? Nicht ganz. Folgt man der Mainzer Langzeitstudie, dann hat sich der Anteil