Bis zum Äußersten. Rongliang Zhang
Als ich merkte, was meine Mutter auf sich nahm, um meine jüngere Schwester und mich über die Runden zu bringen, fühlte ich mich verantwortlich und ihre Last wurde meine Last, ihre Schmach meine Schmach und ihre Tränen wurden meine Tränen. Was musste sie ertragen! Ich sah es als meine Aufgabe, meiner Mutter Schutz und Trost zu geben, aber ich konnte nichts an ihrer Not ändern.
Viele Jahre später, am 2. Oktober 2005, saß ich in meiner Gefängniszelle, als die Erinnerung an meine Mutter und was sie alles für mich getan hatte, mich plötzlich überwältigte. Ich wollte ihr das so gerne sagen, aber sie lebte nicht mehr. So schrieb ich das folgende Gedicht:
Meine Mutter,
am 4. März 2003, mit 86 Jahren, bist Du von mir gegangen.
Ich weinte neben dem Bett, wo Du schliefst,
ich schaute Dich an und mein Herz tat mir weh.
Die Erinnerung an Dich ist wie ein Film in meinem Kopf:
An den Frühling im Jahr 1962,
in dem Jahr, als die Not unser Land drückte.
Wir hatten kein Salz mehr im Schrank,
aber die Gesundheit Deiner Kinder war Dir immer wichtig.
Du kauftest, was wir brauchten,
mit den Locken Deines eigenen Haares.
Jetzt hatte mein Essen Geschmack, aber mein Herz blutete.
Auf der Straße sahen die Leute sich nach Dir um,
ja, einige spotteten: „Schaut her, die hat ja eine Glatze!“
Mutter, ich hätte es nie essen sollen, jenes Salz,
ich hätte es nicht zulassen sollen, dass Du Dein Haar
abschnittest.
Mutter, jetzt geht es Deinen Kindern viel besser,
aber Du bist fort.
Wie gerne hätte ich Dich bei mir behalten,
sodass Du von dem Salz hättest kosten können,
das Dein Sohn gekauft hat.
In all dem Elend damals schaffte meine Mutter es, mich auf die Schule zu schicken. Obwohl wir hungerten und obwohl mein Vater nicht mehr da war. Es ist nicht einfach, eine alleinerziehende Mutter zu sein, und es wird noch schwerer, wenn man mitten in einer Hungersnot steckt, die ein verblendetes Regime durch seine abenteuerliche Politik heraufbeschworen hat.
Meine Mutter tat also, was sie konnte, damit ich zur Schule gehen konnte. Doch dann kam der Tag, an dem sie merkte, dass sie nicht mehr das nötige Geld dazu hatte; sie konnte gerade noch genug zusammenkratzen, damit wir zu essen hatten. Ich wollte aber auf keinen Fall die Schule abbrechen. Sie war meine einzige Chance, es im Leben einmal besser zu haben. Meine Mutter hatte getan, was sie konnte; jetzt musste ich mir selbst etwas überlegen.
Und dann hatte ich eine Idee, wie ich mir das Schulgeld verdienen konnte. Angesichts der Hungersnot waren die Menschen bereit, so ziemlich jedes Tier zu essen. Ich beschloss, Maulwürfe zu fangen, die ich den Dorfbewohnern als Fleisch verkaufen konnte. Fünfzig Maulwürfe, so hatte ich ausgerechnet, müssten für ein halbes Schuljahr reichen. Ich erfand auch eine ebenso raffinierte wie erfolgreiche Methode, die Tiere zu fangen. Vier Jahre lang florierte mein privater Maulwurfhandel. Der Erlös reichte für mein Schulgeld, sodass meine Mutter sich nicht mehr darum zu sorgen brauchte, wie sie mir den Schulbesuch ermöglichen konnte. Doch nach den vier Jahren wurden die Maulwürfe immer weniger, gerade so, als ob auch sie die Hungersnot zu spüren bekämen. Ich musste die Schule abbrechen.
Das war ein herber Schlag für uns alle. Mir kam es vor, als ob meine Zukunft sich in Luft auflöste. Ich versuchte, eine andere Einnahmequelle zu finden, aber mir fiel nichts ein und meine Mutter brauchte zu Hause auch meine Hilfe. Ich wollte unserer Familie so gerne eine bessere Zukunft schenken, aber wir wussten nie, was der nächste Tag bringen würde. Überleben war wichtiger als Bildung.
Als ich viel später – im Jahre 2005 – auf einer Wiese ein paar Maulwurfshügel sah, musste ich wieder an jene schwierige Zeit denken. Wenn ich heute irgendwo Maulwürfe sehe, möchte ich ihnen am liebsten zuwinken und mich dafür entschuldigen, wie ich damals ihre Vorfahren verfolgt habe. Und ich sagte mir auf jener Wiese 2005 auch, dass ich zwar die Schule nicht hatte abschließen können, aber dass sich das Geld, das ich in meine Schulzeit gesteckt hatte, doch ausgezahlt hatte, denn so konnte ich später fleißig die Bibel lesen und studieren, um Menschenseelen zu retten.
2. Opa Sun
Den 11. März 1963 werde ich mein Leben lang nicht vergessen. An diesem Tag kam eines der ältesten Mitglieder meiner Familie, Sun Wendang, wie üblich zu uns zu Besuch und nahm mich beiseite, um mich zu unterweisen. Opa Sun, wie wir ihn nannten, war im ganzen Dorf hoch geachtet wegen seiner Weisheit und Besonnenheit.
In der chinesischen Kultur stehen die Alten und die Weisheit, die sie im Laufe ihrer langen Lebenserfahrung erworben haben, traditionell hoch im Kurs. Damals wohnten bei uns die verschiedenen Generationen einer Familie meist zusammen – in separaten Häusern oder Hütten, die um einen Innenhof herum angeordnet waren. Den Ehrenplatz hatte dabei immer das Haus der Großeltern, das am Kopf des Hofes stand. Die Kinder und Enkel hatten die Pflicht, für sie zu sorgen und sie zu ehren, während die Alten die Aufgabe hatten, ihre Weisheit an ihre Kinder und Enkel weiterzugeben, sodass sie im Fluss der Generationen nicht verloren ging.
Sun Wendang war der Bruder meines Großvaters, also eigentlich mein Großonkel, aber ich nannte ihn trotzdem „Opa Sun“. An jenem Märztag brachte er mir etwas ganz Besonderes mit. Als er mich beiseitenahm, spürte ich, dass er etwas sehr Wichtiges auf dem Herzen hatte.
„Mein Enkel“, sagte er, „du bist jetzt zwölf Jahre alt und ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Du bist jetzt alt genug, um ein Goldkorn der Weisheit zu empfangen, das bis in die Ewigkeit reicht. Was ich dir jetzt sagen werde, ist für alle Zeiten wichtig; es geht um nichts weniger als um deine Seele.“
Ich hörte immer aufmerksam zu, wenn Opa Sun mit mir sprach, aber diesmal war es irgendwie anders. Der Klang seiner Stimme, der Ernst in seinem Gesicht – das musste etwas sehr Wichtiges sein. Aufmerksam saß ich da, die Ohren gespitzt und den Kopf nach vorne gebeugt, um ja kein Wort zu verpassen. Aber ich war nicht sehr geduldig. Seine Worte kamen für meinen Geschmack zu langsam; am liebsten hätte ich sie ihm aus dem Mund gezogen, damit es schneller ging. Ich spürte, dass er im Begriff stand, mir etwas Aufregendes zu sagen, und ich wollte es so schnell wie möglich hören!
„Ich möchte dir von einem Freund erzählen, der Jesus heißt. Jesus war ohne Sünde. Weißt du: Du und ich, wir sind voller Sünde und Schuld. Sünde − das ist das, was wir machen, wenn wir anderen, unserem Land oder uns selbst wehtun. Aber vor allem gibt es einen Gott und dem tun wir auch weh und das ist unsere allergrößte Sünde.“
Opa Sun versuchte, mir den Begriff der Sünde und des ewigen Lebens auf eine Art nahezubringen, die ich, fast noch ein Kind, begreifen konnte. Obwohl ich ihm wie gebannt zuhörte, begriff ich nicht alles, was er sagte.
„Du kennst Jesus nicht, aber er kennt dich. Und er liebt dich. Jesus ist ohne jede Sünde und er will dir die Last deiner Sünde abnehmen. Er will dir ewiges Leben schenken. Ewiges Leben kann nur bekommen, wer von seinen Sünden reingewaschen ist.“
Als Vierjähriger hatte ich einmal eine Kirche von innen gesehen. Nicht weit von unserem Haus hatte es eine sehr schlichte Kirche gegeben, aber damals war ich zu jung gewesen, um die Predigt zu verstehen, geschweige denn zu merken, ob die Christen dort sich frei und ohne die Einmischung des Staates versammeln konnten oder nicht. Das war lange her. Ich verstand nicht alle Worte, die Opa Sun jetzt benutzte.
Jesus war mir kein Begriff. Er wohnte nicht in meinem Dorf, sodass ich noch nie von seiner Familie gehört hatte. Opa Sun fuhr fort: „Jesus möchte, dass du für immer mit ihm lebst. Er starb, um dich von deinen Sünden reinzuwaschen. Er wurde geschlagen und an einem Holzkreuz aufgehängt, wo er starb. Aber am dritten Tag ist er aus dem Grab auferstanden. Er lebt und eines Tages wird er wiederkommen und uns für immer zu sich in