Handbuch Ambulante Einzelbetreuung. Ute Reichmann
Kompetenzen und besondere professionelle Vorerfahrungen spielen häufig bei der Einsatzentscheidung einer bestimmten Person in einem bestimmten Fall eine Rolle. Das Alter der Betreuungsperson und persönliche Charakteristika und Interessen können ausschlaggebend sein. Dass die individuelle „Passung“ von Betreuungsperson und betreutem jungen Mensch die Wirkung der Hilfe erheblich bestimmt, ist in der Fachliteratur unumstritten (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003, Rätz-Heinisch 2005). Ein Problem stellt aber nach wie vor die mangelnde Greifbarkeit der Faktoren dar, die eine persönliche Passung ermöglichen.
Funktion der Hilfe
Ambulante Einzelbetreuung ist multifunktional. Maßnahmen nach § 30 und § 35 SGB VIII vereinigen Sozialisations-, Bildungs-, Unterstützungs-, Kontroll- und – bei Betreuungsweisungen[42] anstelle strafrechtlicher Sanktionen – auch Resozialisierungsfunktionen. Diese Funktionen sind nicht klar voneinander abzugrenzen.
Der Unterstützungsgedanke steht bei allen Jugendhilfemaßnahmen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz im Vordergrund. Dies beinhaltet Freiwilligkeit und Partizipation bei der Hilfeplanung. Obwohl das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) den Partizipationsgedanken auch für Minderjährige stärkt, ist er noch nicht befriedigend umgesetzt, weil Minderjährigen nach wie vor kein eigenes Antragsrecht auf Jugendhilfemaßnahmen zukommt (vgl. Urban 2004, Münder 2006, Pluto 2007). Beantragen Eltern eine ambulante Einzelbetreuung „für“ einen jungen Menschen, die von ihm abgelehnt wird, kann die Hilfe aus seiner Sicht als unfreiwillig, erzwungen und gegebenenfalls als Kontrollmaßnahme erscheinen.
Kontroll- und Eingriffsaufgaben gehören vor allem dann zum Pensum ambulanter Einzelbetreuungen, wenn ein Verdacht der Kindeswohlgefährdung aufkommt (s. Kap. Grenzsituationen der Jugendhilfe: Kindeswohlgefährdung).
Sozialisationsaufgaben stehen bei einem familienergänzenden Einsatz an erster Stelle. Dies gilt nicht nur für die Betreuung kleinerer Kindern, sondern kann auch bei Jugendlichen erforderlich sein, die durch Vernachlässigung und Alltagsstrukturprobleme altersentsprechende Kompetenzen nicht erworben haben.
Auch die Vermittlung von Bildungsinhalten kann zum Aufgabenbereich der ambulanten Einzelbetreuung gehören, zum Beispiel, um in der Schule den Anschluss wieder zu ermöglichen.
Diese vielfältigen Funktionen sind in der Praxis nicht zu trennen. Typisch für natürliche soziale Kontexte ist immer eine gewisse Rollen- und Funktionsmischung. Dies gilt auch für die kontroll- und unterstützungsorientierten Anteile der Arbeit. Freiwilligkeit zu Beginn eines Jugendhilfeangebots erhöht möglicherweise die Kooperationsbereitschaft. Aber das Entstehen einer konstruktiven Arbeitsbeziehung wird durch eine Zwangs- und Eingriffsstruktur nicht automatisch verhindert.
Gerade der auf den ersten Blick unproblematische Unterstützungsaspekt einer Jugendhilfemaßnahme kann für Jugendliche, die Wert auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit legen, unakzeptabel erscheinen. Ein junger Mensch kann es als Ausdruck persönlichen Versagens und Bedrohung von Souveränität empfinden, wenn ihm in der Hilfeplanung die Formulierung eines expliziten persönlichen Hilfebedarfs abverlangt wird. So kann es dazu kommen, dass ein eigentlich akzeptiertes und sogar gewünschtes Unterstützungsangebot allein infolge unannehmbarer Formulierungen nicht in Gang kommt oder abgebrochen wird
Intensität
Ambulante Einzelbetreuungen werden überwiegend mit einer wöchentlichen Stundenzahl von durchschnittlich fünf bis sieben Stunden pro Woche durchgeführt. Daraus ergeben sich etwa zwei Kontakte pro Woche. Zusätzlich finden Gespräche mit Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und bei Bedarf weiteren institutionellen oder informellen Netzwerkpartnerinnen und -partnern statt. Bei ländlicher Struktur kommen längere Fahrzeiten hinzu und je nach der Organisationsstruktur und dem Abrechnungsmodus des Trägers Teambesprechungen. Die eigentliche Kontaktzeit ist also im Durchschnitt relativ kurz und erlaubt rein zeitlich keine zu enge Beziehung. Die in diesem Rahmen umsetzbaren Kontrollmöglichkeiten sind gering, weil der weitaus umfangreichere Teil des Alltags selbst gestaltet bleibt. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist eine[43] intensivere Betreuung oft gar nicht umsetzbar, weil sie als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden wird.
Zwischen dem zeitlichen Umfang der Kontakte und der Wirkung der Maßnahme besteht oft kein direkter Zusammenhang. Wichtig für die Wirkung scheint zu sein, dass die jungen Menschen die gemeinsam verbrachte Zeit schätzen und Anregungen durch die Hilfe für ihre persönliche Weiterentwicklung nutzen.
Persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen
Die Wirkung, die eine Einzelbetreuung erzielen kann, hängt damit zusammen, ob und wie weitgehend es der Fachkraft gelingt, für den jungen Menschen biografisch relevant zu werden und damit zu einer Person, deren Meinung zählt, die um Rat gefragt und ins Vertrauen gezogen wird, die als Orientierung für das eigene Leben dient und mit deren Einstellungen man sich auseinandersetzt, ja, deren Haltungen man zu übernehmen geneigt ist, der man gefallen und vor deren Urteil man bestehen will. Es gibt einige persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die eine solche Wirkung unterstützen: Glaubwürdigkeit, Authentizität, Sympathie, Anerkennung, Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Klarheit, Respekt, Höflichkeit, Interesse, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme.
Glaubwürdigkeit
Glaubwürdigkeit entsteht einerseits, wenn die Äußerungen eines Menschen in sich widerspruchsfrei und vom Ausdruck her glaubhaft sind, aber vor allem auch dann, wenn dieser Mensch für das, was er äußert, mit seinen Taten einsteht. Handelt ein Mensch deutlich sichtbar im Sinne seiner Einstellungen, gewinnt er an Glaubwürdigkeit und Autorität für andere und wird für sie überzeugend. Bei den eigenen Eltern und bei anderen pädagogisch Einfluss nehmenden Personen orientieren sich junge Menschen oft mehr am handelnden Beispiel als an ausdrücklichen Belehrungen und nehmen Widersprüche deutlich war.
Authentizität
Carl Rogers, der Begründer der Klientzentrierten Gesprächsführung, bezeichnete Kongruenz, die emotionale Echtheit und Transparenz des Therapeuten, als eines der drei wichtigsten Wirkungsmechanismen in der Therapie (die anderen beiden sind Akzeptanz und Empathie – s.u., vgl. Rogers 19813). Kongruent bzw. authentisch sein bedeutet seine eigenen Gefühle nicht zu verbergen, sondern sie im Umgang mit den Adressatinnen und Adressaten zu zeigen und zu thematisieren. Gemeint ist ein ehrliches, akzeptierendes, reflektiertes und ruhiges Umgehen mit den eigenen Gedanken und Gefühlen wie mit denen der Interaktionspartner.
[44]Sympathie
In seiner Studie über ambulante Einzelbetreuung verweist Fröhlich-Gildhoff darauf (2003), wie wichtig betreute junge Menschen die persönliche Sympathie zur Betreuungsperson und das Vorhandensein gemeinsamer Interessen nehmen. Gegenseitige Sympathie bildet offenbar die unverzichtbare emotionale Basis der Betreuung.
Anerkennung
Nach einer Erkenntnis von Klaus Wolf (2001) zeichneten sich Familienhelferinnen, denen es gelang ihre Adressatinnen und Adressaten wirksam zu Verhaltensänderungen anzuregen, dadurch aus, dass sie deren Kompetenzen aufspürten, diese hervorhoben, anerkannten und sie ermutigten, diese zu erproben und zu entwickeln. Übertragen auf die ambulante Einzelbetreuung bedeutet das, dass die jungen Menschen zur selbst verantworteten Entwicklung ermutigt werden müssen. Dies geschieht durch ein realistisches Erkennen und der Anerkennung dessen, wer sie sind, wozu sie fähig sind und wohin sie sich entwickeln könnten.
Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Klarheit
Bemüht sich die Betreuungsperson ehrlich um berechenbares und voraussehbares Verhalten, ist dies für die Adressatinnen und Adressaten ein wichtiger Faktor, um die Hilfe annehmen zu können. Ein alltagsnahes Jugendhilfeangebot beinhaltet immer eine Grenzüberschreitung, die dann akzeptabler wird, wenn sie nach transparenten Regeln stattfindet. Ebenso wenn das Hilfeangebot zuverlässig erbracht wird. Der informelle Kontext der ambulanten Einzelbetreuung kann Betreuungspersonen mangels Kontrolle und Rahmen zum nachlässigen Umgang mit Strukturen und Grenzen verführen. Regelmäßige und zuverlässige Termine, Pünktlichkeit im Rahmen des Möglichen, das Ankündigen und die Absprache von Änderungen und das Einhalten von Plänen von Seiten der Betreuungspersonen sollten selbstverständlich sein. Je klarer und offenbarer die Umgangsregeln