Handbuch Ambulante Einzelbetreuung. Ute Reichmann
Rechtssubjekte angesehen und zuletzt wurde im Dezember 2011 durch die Zustimmung des Bundesrats zum BKiSchG der Partizipationsgedanke – bezogen auf die Beteiligung von Erziehungsberechtigten und jungen Menschen – als wesentlicher Teil der Qualität von Jugendhilfe noch einmal stärker im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert.
Bei der Umsetzung von Partizipation stehen verschiedene Modelle zur Auswahl: Advokatorische Konzepte, realisiert zum Beispiel durch Kinder- Frauen- oder Behindertenbeauftragte, beziehen Vertreterinnen und Vertreter der entsprechenden Gruppe in einen Entscheidungs- oder Planungsprozess ein. Verfahrenspflegerinnen und Verfahrenspfleger als Beteiligte in familiengerichtlichen Verfahren nehmen als professionelle Stellvertreterinnen der betroffenen Kinder diese Funktion war. Bei repräsentativen Modellen werden gewählte Delegierte eingesetzt. Unmittelbare Beteiligungsformen erlauben möglichst vielen Betroffenen eine möglichst vollständige und möglichst aktive Teilnahme am gesamten Steuerungs- und Entscheidungsprozess. Das Aushandlungsmodell der Hilfeplanung in der Jugendhilfe nach § 36 SGB VIII folgt diesem Modell. Eine weitere Form ist die geteilte Entscheidung („shared decision making“, Pluto 2007: 24).
Beteiligung bezieht sich in der Jugendhilfe sowohl auf die Auswahl und Steuerung der Hilfe als auch auf ihre Durchführung und bei den stationären Angeboten auch auf den gemeinsamen Alltag in der Einrichtung. Schon bei der Auswahl und Steuerung der Hilfe über die Hilfeplanung können Spannungen zwischen den Interessenlagen verschiedener Parteien aufkommen, zwischen Eltern und Kindern, Elternteilen oder Geschwistern. Es können auch Zielkonflikte zwischen Selbstbestimmungs- und Beteiligungsrechten und der Anpassung an Sachzwänge bestehen. Sobald sich Jugendhilfe im Bereich potenzieller Kindeswohlgefährdung bewegt, kommt als weiterer Aspekt ihr „doppeltes Mandat“ ins Spiel29. Beteiligungsrechte werden ausgesetzt und allgemeinen Schutznormen unterworfen, sobald ein Jugendhilfefall als Gefährdungsfall klassifiziert ist. Die Fachautorin Liane Pluto schreibt hierzu:
[62]„Eine klare Auftragssituation ist wahrscheinlich sogar in den seltensten Fällen gegeben. In der Regel wird sich die Fallkonstellation durch eine diffuse Gemengelage auszeichnen, die sich irgendwo zwischen Hilfe und Kontrolle bewegt und von Eltern einerseits und Kindern andererseits unterschiedlich interpretiert wird.“ (Pluto 2007: 46).
Im Hilfeplanungsprozess sind mindestens zweierlei Machtungleichgewichte in ausgleichende Partizipationsaktivitäten der Fachkräfte einzubeziehen: Das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Fachkräften und Adressatinnen und Adressaten und das zwischen Erwachsenen und Minderjährigen. Darüber hinaus haben die Adressatinnen und Adressaten nicht immer Interesse an einer aktiven Beteiligung und bringen häufig – Erwachsene wie junge Menschen – eine geringe Partizipationskompetenz bezüglich der Verwaltungsabläufe mit. Liane Pluto schreibt:
„Die Anforderung, dass Kinder und Jugendliche beteiligt werden sollen, ist im Bereich der Hilfen zur Erziehung immer auch eine pädagogische und damit eine paradoxe Anforderung. Damit ist gemeint, dass man in Erziehungsprozessen das, was man zu erreichen sucht, bereits vorauszusetzen hat. […] Das gilt auch für Beteiligungsprozesse: Sie sind in dem Kontext der erzieherischen Hilfen immer auch Weg und Ziel zugleich.“ (Pluto 2007: 52).
Es soll ergänzt werden, dass das auf die zu beteiligenden Erwachsenen in vielen Fällen ebenso zutrifft. Bei der Hilfeplanung soll durch eine transparente, an Verständigung und den jeweiligen Kompetenzen der Beteiligten orientierte Verfahrensausgestaltung eine aktive Beteiligung an der Hilfeauswahl und -steuerung gefördert und unterstützt werden. Das praktische Einüben von Beteiligung ist bei der Ambulanten Einzelbetreuung im Vergleich zur stationären Heimerziehung und der Gruppenpädagogik beschränkt, bei denen kollektive Entscheidungsformen alltagspraktisch erprobt werden können. Doch auch hier ergeben sich viele Chancen zur Förderung von Partizipation. Zum einen kann die Betreuungsperson dem jungen Menschen in der Hilfeplanung stellvertretend eine Stimme verleihen oder besser noch: Die Betreuerin oder der Betreuer achtet darauf, dass der junge Mensch dort mit seinen Anliegen angehört und wahrgenommen wird. Das Hilfeplangespräch sollte gemeinsam vorbereitet werden und der junge Mensch kann darin unterstützt werden, seine Perspektive zu entdecken, auszuformulieren und selbst vorzubringen. Dies ist auch in anderen Kontexten wie der Familie und der Schule sinnvoll. Dabei lernt der junge Mensch, eigene Sichtweisen und Interessen zu entwickeln, gegenüber anderen Personen und Institutionen in verschiedenen Konstellationen selbstbewusst und angemessen zu vertreten, praktische Umsetzungswege im Diskurs zu entwickeln und dabei auch Kompromisse auszuhandeln. Auch die Förderung der politischen Willensbildung und Beteiligung und die Unterstützung der aktiven Wahrnehmung eigener Rechte gehört zu den Aufgaben der Einzelbetreuung. Praktizierte Partizipation hat hierbei die Komponenten: Mitdenken, Mitreden, Mitplanen, Mitentscheiden, Mitgestalten, Mitverantworten (Pluto 2007: 53). Betreuende Fachkräfte können die von ihnen betreuten jungen Menschen bei diesen Aktivitäten unterstützen, indem sie sie über Rechte und institutionelle Abläufe informieren, ihnen Zugänge eröffnen, ihre kommunikativen Kompetenzen anregen, entwickeln und fördern, sie zur Wahrnehmung ihrer Rechte ermutigen und sie in schwierigen Situationen begleiten. Stellvertretende Aktivitäten, bei denen die betreuende Person für den jungen Menschen spricht, können dabei am Anfang einer Entwicklung stehen, bergen aber immer die Gefahr der Entmündigung und Passivierung.
Während der Partizipationsgedanke vom Individuum her gedacht ist, reflektiert der Begriff der Inklusion als Leitbegriff des Bildungssystems und der Sozialen Arbeit die strukturellen Bedingungen, die für eine vollumfängliche Teilhabe an der Gesellschaft[63] notwendig sind. Er löst den älteren Begriff der Integration ab. Während Integration noch stark an normativen Vorstellungen orientiert war, hat sich die Idee der Inklusion vollständig davon gelöst. In einer inklusiven Gesellschaft sind die Diversität der Individuen und das Vorhandensein unterschiedlichster persönlicher Kompetenzniveaus vollständig akzeptiert. Die Verantwortung für die Beseitigung von Zugangshindernissen für Einzelne oder Gruppen, seien es räumliche, soziale oder kulturelle Barrieren, und für die aktive Kompensation von Benachteiligungsfaktoren liegt nicht mehr beim Individuum, sondern bei der Gesellschaft. Damit fordert der Begriff Inklusion vor allem die auf Segregation und Leistungsauslese ausgerichteten Bildungsinstitutionen und die Wirtschaft heraus. Die Inkusionsforderung u.a. durch die UN-Behindertenkonvention stellt das gegliederte Schulsystem und die Ausdifferenzierung spezifischer, auf Segregation beruhender Förderangebote fundamental in Frage. Auch für die Soziale Arbeit, die sich in diesen Bereichen etabliert hat, bedeutet Inklusion eine Infragestellung und veränderte Aufgabenwahrnehmung. Inklusion beinhaltet die Überwindung und Aufhebung von Barrieren der Wahrnehmung und Kommunikation, von räumlicher Trennung, das reflexive Aufbrechen von Vorurteilen und die Förderung von Kommunikation, Toleranz und Unterschiedlichkeit. Um dieses Ziel realisieren zu können, müssen spezialisierte Institutionen für Benachteiligte zugunsten breiter aufgestellter Regelinstitutionen aufgelöst werden. Um die zusätzlichen Aufgaben erfüllen zu können, müssen diese Systeme zukünftig mit den entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet werden. Dies impliziert eine zunehmende Einbeziehung sozialarbeiterischer Kompetenz in alle gesellschaftlichen Bereiche.
Jugendhilfe arbeitet vorrangig mit als benachteiligt und unterstützungswürdig klassifizierten Personen und Familien. Insbesondere die ambulante Einzelbetreuung wird häufig bei jungen Menschen eingesetzt, die aus verschiedensten Gründen vom Bildungssystem ausgesondert wurden. Inklusion bedeutet, dass die Einbeziehung dieser jungen Menschen in normale gesellschaftliche Abläufe Vorrang haben muss vor speziellen Förderangeboten. Als Reaktion auf die große Zahl an jungen Menschen, die den Weg durch das Bildungssystem nicht schaffen, haben sich zahlreiche Organisationen Sozialer Arbeit etabliert, deren Arbeit letztlich auf sozialem Ausschluss beruht. Inklusiv zu arbeiten heißt, primär auf Reintegration in Regelinstitutionen hinzuwirken.
Soziale Arbeit hat nicht nur mit Menschen zu tun, die durch gesellschaftliche Strukturen und Institutionen ausgeschlossen werden, sondern auch mit denjenigen, die Exklusion gegenüber anderen praktizieren. Ambulante Einzelbetreuung wird als Hilfemaßnahme bei jungen Menschen eingesetzt, die sich als intolerant, andere unterdrückend und gewalttätig zeigen. Dies kann sich als extremistische politische oder religiöse Position ausformen oder als abwertendes Alltagsverhalten gegenüber Behinderten, Menschen mit einer sexuellen Orientierung, die als abweichend bewertet wird, dem anderen Geschlecht, das als minderwertig klassifiziert wird o.ä. Hier besteht die Inklusionsfunktion der Betreuungspersonen darin, die