Die Pflege und die Coronapandemie in Deutschland. Группа авторов
(WHO, 2020). Weltweit waren Regierungen, Wissenschaft und Gesundheitswesen nun gefordert, die Ausbreitung einer unbekannten Krankheit einzudämmen, ein Heilmittel gegen sie zu entwickeln und die Gesundheitsversorgung ihrer jeweiligen Bevölkerungen sicherzustellen. Und das in einer Zeit, in der nach Angaben der WHO sechs Millionen Pflegefachpersonen fehlen (WHO, 2020).
Auch in Deutschland lässt sich die Bedeutung professioneller Pflege in der Gesundheitsversorgung nicht mehr leugnen. Während Pflegefachpersonen derzeit an vielen Orten und Einrichtungen gefordert sind, werden die Lehren und Konsequenzen, die aus dieser Pandemie gezogen werden, von entscheidender Bedeutung für den gesamten Berufsstand in Deutschland sein.
Relevanz der Pflege in der Pandemie
Es werden immer wieder Parallelen zur Spanischen Grippe und weiteren vergangenen Pandemien gezogen, etwa wenn es um Hygienemaßnahmen oder den wellenartigen Verlauf geht. Auch im Zusammenhang mit der professionellen Pflege lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Die historische Pflegeforschung zeigt, dass auch während der Spanischen Grippe 1918–1920 eine gute Ausbildung und ein professionelles Selbstverständnis von großer Bedeutung für die Behandlung der Grippekranken waren. In Ländern wie den USA konnte durchaus ein Professionalisierungsschub ausgelöst werden, indem Pflegenden etwa die eigenständige Beratung und Schulung der Bevölkerung zum Infektionsschutz übertragen wurde. In anderen Ländern, wie etwa in Neuseeland, mussten sich die Pflegenden gegen eine drohende Deprofessionalisierung aufgrund einer massenhaften Rekrutierung von Laien für die Pflege zur Wehr setzen (Nolte, 2020). Allerdings zeigt sich auch, dass Pflegende in der Krankenversorgung während einer Pandemie besonders exponiert waren und aufgrund der zuvor schon bestehenden dauerhaften Erschöpfung infolge von physischer und psychischer Überforderung, ein zusätzliches Risiko hatten selbst zu erkranken (Braunschweig, 2019).
Auch in der derzeit noch grassierenden COVID-19-Pandemie scheint es Chancen und Risiken für den Pflegeberufsstand zu geben. Zu Beginn des Pandemieausbruchs schien es, als würde der Wert professioneller Pflege in Deutschland endlich anerkannt werden, sodass langfristige Änderungen möglich wären. Immerhin wurde der Pflegeberuf nun, gemeinsam mit anderen Berufsgruppen, als »systemrelevant« erklärt. Mit diesem Begriff wurden Berufsgruppen definiert, die für das Funktionieren der Gesellschaft unerlässlich sind und daher von einigen im Frühjahr beschlossenen Maßnahmen ausgenommen wurden, während der Rest der Bevölkerung seiner Berufstätigkeit nur eingeschränkt oder gar nicht nachgehen konnte (DIW, 2020). Sehr schnell wurde der Begriff jedoch emotional und moralisch aufgeladen, gefolgt von Solidaritätsbekundungen in der Bevölkerung etwa in Form von allabendlichem Applaus an Fenstern und Balkonen, aber auch im Bundestag. Erwähnenswert ist auch die Online-Petition »Corona-Krise: Gemeinsamer Aufruf von Pflegefachkräften an Jens Spahn!«, die mittlerweile von über 450.000 Personen (Stand März 2021) unterschrieben wurde, was ein deutliches Signal dafür ist, dass die Gesellschaft die Bedeutung des Pflegeberufs bereits erkannt hat (change.org, 2021). Darüber hinaus wurde auch der Ruf nach Bonuszahlungen für die Pflegenden in der unmittelbaren Patientenversorgung laut, dem die Politik auch nachkam. So wurde zunächst eine Sonderprämie für Pflegende in Einrichtungen des SGB XI und schließlich auch für Kliniken, die mit der Behandlung infizierter Patienten »besonders belastet« waren, beschlossen. Wobei diese Prämien auch für Unmut innerhalb der Berufsgruppe sorgten, da sehr viele in der Patientenversorgung (so z. B. in zahlreichen Kliniken, die die Voraussetzungen nicht erfüllten, als auch Pflegende in Heimen für Menschen mit Behinderungen) nicht berücksichtigt wurden.
Diese sicherlich ehrlich und gut gemeinten Zeichen der Wertschätzung sollten allerdings nicht über die eklatanten Mängel und Probleme in der pflegerischen Versorgung hinwegtäuschen, deren Ursachen nicht in zu geringer Wertschätzung liegen. Angefangen bei weltweiten Lieferengpässen von Schutzausrüstung, die dazu führten, dass Pflegende unzureichend mit Schutzmasken und Schutzkitteln ausgestattet wurden, was für die Pflegenden aber auch für die zu versorgenden Menschen mit Pflegebedarf ein hohes Infektionsrisiko darstellte und auch immer noch darstellt. Mittlerweile gibt es Hinweise darauf, dass das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf von COVID-19 bei Pflegenden um ein siebenfaches erhöht ist, als das anderer Berufsgruppen (Mutambudzi, et al., 2020). Hinzu kommt, dass aufgrund des ohnehin bestehenden Pflegenotstandes die Quarantäneempfehlungen für medizinisches Personal angepasst wurden, sodass es nun möglich ist, wenn auch unter bestimmten Voraussetzungen, dass die Quarantänezeit verkürzt und auch Pflegende, die sich mit dem Virus SARS-CoV-2 infiziert hatten, weiterhin in der Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf eingesetzt werden konnten. Dennoch, oder gerade deswegen, kam es bereits im Frühjahr 2020 zu mehreren Ausbrüchen in Alten- und Pflegeheimen und zu Versorgungseinbrüchen, bei denen die Bundeswehr zu Hilfe gerufen werden musste1.
Ging die Situation in den Kliniken im Frühjahr 2020 noch vergleichsweise glimpflich aus, können auch dort die Konsequenzen des bereits seit Jahren bestehenden Pflegenotstandes spätestens seit dem Herbst 2020 nicht mehr ignoriert werden. Zusätzlich beschaffte Intensivbetten sorgten zunächst für ein trügerisches Sicherheitsgefühl, bis man feststellen musste, dass die für die Intensivversorgung notwendigen Fachpflegenden gar nicht zur Verfügung stehen. Zu diesem Zeitpunkt verzeichnete Deutschland bereits einen weiteren Anstieg an Neuinfektionen, der die Zahlen vom Frühjahr 2020 mittlerweile mehrfach übertroffen hat. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages2 wurden fast 30.000 neu gemeldete Fälle und über 950 Todesfälle innerhalb eines Tages vermeldet. Tausende COVID-19-Fälle müssen derzeit intensivmedizinisch behandelt werden. Die Infektion greift vor allem in der älteren Bevölkerung sowie in Alten- und Pflegeheimen um sich. Auch die Infektionen von Beschäftigten in medizinischen Einrichtungen und Pflegeheimen nehmen zu. Ein Ende des Infektionsgeschehens ist derzeit nicht in Sicht (RKI, 2020). Immer mehr Kliniken vermelden derzeit, dass ihre Kapazitätsgrenzen erreicht seien3. Die langfristigen Folgen sind dabei noch nicht absehbar. Es steht zu befürchten, dass die derzeitigen Überlastungen in der pflegerischen Versorgung sowie Erkrankungen der Pflegenden, den bereits bestehenden Pflegenotstand noch verschärfen werden. Neben einer COVID-19-Infektion sind dabei auch Folgeerkrankungen aufgrund der hohen Belastung der Pflegenden zu berücksichtigen. Auch ist davon auszugehen, dass etwaige, bislang noch unerforschte Folgeerscheinungen der COVID-19-Erkrankung (Long Covid) den Bedarf an Pflegefachpersonen noch zusätzlich steigern werden.
Zu erwähnen sind dabei auch Todesfälle in Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion. Stand heute (07.01.2021) sind über 150 Beschäftigte unterschiedlicher Einrichtungen des Gesundheitswesens als auch von Gemeinschaftseinrichtungen wie Pflegeheimen verstorben. Auch wenn diese Daten nicht berufsgruppenspezifisch erhoben werden, ist davon auszugehen, dass Pflegende einen bedeutsamen Anteil an dieser Anzahl haben (RKI, 2021). Ende Oktober 2020 vermeldete der International Council of Nurses (ICN), dass weltweit bereits mehr Pflegende verstorben seien, als im Ersten Weltkrieg (Wyatt, 2020).
Umso kritischer muss man zur Kenntnis nehmen, dass die professionelle Pflege im Gesundheitswesen zwar systemrelevant, jedoch nicht systemintegriert ist. Pflegefachpersonen sind in Krisenstäben auf kommunaler, Landes- und Bundesebene per se nicht vertreten. Dies hat einerseits zur Folge, dass insbesondere Kommunen sich häufig erst zeitaufwendig einen Überblick über die pflegerische Versorgung vor Ort verschaffen mussten, bevor sie überhaupt zur Sicherstellung dieser tätig werden konnten (Pitz, 2021). Weiterhin müssen zur Krisenbewältigung Entscheidungen getroffen werden, die direkte Auswirkungen auf die pflegerische Versorgung in nahezu allen klinischen und außerklinischen Bereichen haben, ohne dass dabei pflegefachliche Expertise miteinbezogen wird.
Auch im öffentlichen Gesundheitsdienst, der durch die Pandemie an Bedeutung gewonnen hat, spielt Pflege trotz bestehender Konzepte wie Schulgesundheitspflege oder Community Health Nursing kaum eine Rolle. Dabei zeigt doch gerade die langwierige Diskussion über den Schulbetrieb während der Pandemie, wie notwendig die Fachkompetenzen unter anderem zu Hygiene und Infektionsschutz sowie Schulungs- und Beratungskompetenzen der Pflegenden an den Schulen sind (DBfK, 2020; Dichter, Kocks, Meyer & Stephan, 2020).
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