Die Pfaffenhure. Alice Frontzek

Die Pfaffenhure - Alice Frontzek


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hatten Hans die Regeln des Lebens auch nicht anders vermittelt.

      Und? War er nun nicht auf dem besten Wege, doch zu etwas zu kommen? Immerhin war er ordentlich gekleidet, sein Gesicht war gewaschen und geölt, damit die Falten und die trockene Haut nicht verrieten, welch harte Arbeit lange Zeit sein Leben bestimmt hatte. Er war zweiundvierzig Jahre alt. Ein Mann in den besten Jahren! Was pflegte er immer zu sagen: »Wer im zwanzigsten Jahr nicht schön, im dreißigsten nicht stark, im vierzigsten nicht klug und im fünfzigsten nicht reich ist, der darf danach nicht hoffen.« Klüger war er geworden, und reich zu sein, war er auf dem besten Wege. Er unterbrach seine Gedanken. Seine zeitweiligen Gewissensbisse hatten hier jetzt nichts verloren.

      Frau Cotta brachte gerade drei Flöten und bat Martin, mit ihr und Clara die Lieder zu spielen, die sie gemeinsam geübt hatten. Hans war sehr beeindruckt und musste sich zusammenreißen, dass ihm nicht vor Rührung die Tränen kamen. Martin spielte wirklich schön – das hatte er gar nicht gewusst!

      Als die Kirchturmuhr von St. Georg viermal läutete, verabschiedeten sie sich und besuchten Gretes Schwester Elisabeth. Nein, sie würden nicht zum Abendbrot bleiben, beschieden sie die Tante. Sie wären müde, müssten noch nach den Pferden sehen und morgen in aller Herrgottsfrühe nach Erfurt aufbrechen. Aber ob Elisabeth sie nicht noch zum Sechs-Uhr-Gottesdienst begleiten wolle, um für gutes Geleit für ihren Neffen und ihren Schwager auf ihrer Reise und einen guten Studienbeginn für Martin zu bitten?

      Elisabeth willigte ein, und so gingen sie gemeinsam zurück zum Marktplatz zur Kirche, wo sie der Familie Cotta in den vorderen Bänken zuwinkten. Die Cottas gehörten zu den Bürgern, die dort ihren reservierten Platz hatten. Elisabeth, Hans und Martin standen mit vielen anderen Eisenachern etwas weiter hinten, knieten sich zum Gebet auf Bahnen von Decken, die vor ihnen lagen, und lauschten der lateinischen Predigt des Priesters. Während Hans die Bilder in den Kirchenfenstern betrachtete und das eintönige Singsang des Geistlichen ihn müde werden ließ, freute sich Martin, dass er alles verstand und hier und da Grammatikfehler des Priesters erkannte. Zweimal musste er gar innerlich lachen, denn der Prediger verwechselte ähnlich klingende lateinische Ausdrücke, die aber gänzlich unterschiedliche Bedeutungen hatten. So wollte er einen Heiligen »celleberimus«, der Gefeiertste, nennen, sagte stattdessen aber »cellerimus«, was den Heiligen zum Schnellsten machte. Martin verkniff es sich, laut loszuprusten, und schaute sich um. Niemand sonst schien den Fehler bemerkt zu haben, sein Lateinlehrer war nicht zu sehen, zwei alte Klassenkameraden auf der anderen Seite waren damit beschäftigt, die anwesenden Mädchen mit Mimik und Gestik zu kommentieren, und hatten offenbar nicht zugehört. Na ja.

      Nach der Kirche wurde sich abermals, aber diesmal etwas kürzer, von den Cottas und von Elisabeth und anderen Bekannten verabschiedet. Dann gingen Vater und Sohn zügig in ihr Gasthaus, aßen noch einen kleinen Happen, tranken jeder einen Krug Bier und schliefen bis zum ersten Hahnenschrei.

      Kapitel 3

      1501

      Es war gerade hell geworden, und die Vögel zwitscherten um die Wette, als Hans und Martin Ludher nach einem kräftigen Frühstück mit Ei und Speck abreisefertig die kleine Kutsche bestiegen und die Pferde auf die Via Regia über Gotha nach Erfurt lenkten. Der anfänglich bewölkte Himmel wurde klar und die ersten Sonnenstrahlen wärmten die beiden Reisenden. In Gotha hielten sie unterhalb der Burg Grimmenstein, um im Ostergottesdienst in der Margarethenkirche auf dem Neumarkt zu beten, dann fuhren sie weiter nach Erfordia turrita, die türmereiche Stadt. Ihr Weg führte sie durch Wälder, vorbei an Feldern und Wiesen, durch kleinere Dörfer und entlang schmaler Flüsse und Bäche. Sie machten nur kurze Pausen, um die Pferde zu tränken und selbst einen kleinen Schluck aus ihrer ledernen Flasche oder einen Bissen ihres Brotes und Käses zu nehmen. Einmal hielten sie noch in Kirchheim, als die Wegkirche St. Laurentius zum Abendgottesdienst rief. Sie hatten von der Hohen Straße auf die Nürnberger Geleitstraße gewechselt, die sie über Rockhausen durch den Steigerwald auf die südlichen Stadttore zuführte. Es war fast acht Uhr, es dämmerte bereits, der Tag neigte sich.

      Noch einen kleinen Hügel bergan. Martin konnte die Stadt noch nicht sehen, aber er konnte sie riechen. Der stechende Uringestank, der von Ferne etwas milder roch, war ihm vertraut. In Magdeburg und auch in Eisenach gab es viele Waidjunker, die aus der gelb blühenden Färberpflanze »Waid«, genauer gesagt aus ihren Blättern, mithilfe von Urin ein wertvolles, blaues Farbpulver herstellten. Erfurt war neben Toulouse in Frankreich und Urbino in Italien bekannt für den großen Waidmarkt und die einzigartige Qualität des blauen Goldes.

      »Man riecht es nicht mehr, wenn man einige Zeit in der Stadt verbracht hat«, sagte der Vater, der sah, wie Martin seine Nase rümpfte.

      Nun, auf der Höhe, lag sie vor ihnen. Ein Meer von Türmen. Die hohen und schlanken Spitzen der auf dem Marienhügel und dem Petersberg gelegenen Kirchen grüßten zu ihnen herüber, und das Abendgeläut stimmte sie andächtig. Die letzten Sonnenstrahlen reflektierten auf den blanken Metallplatten, mit denen die Türme von St. Peter gedeckt waren. Beim Anblick des Sibyllentürmchens – eine Art Betsäule, die fromme Bürger dort an der Straße errichtet hatten – dankten Hans und Martin Gott für den gnädigen Reiseschutz. Rauch stieg aus den Schornsteinen empor. Vor der Stadtmauer sah man noch vereinzelt Fuhrwerke ein- und ausfahren.

      »Das Tor dort vorne rechts scheint noch geöffnet. Auch hier ist um sechs Uhr Toresschluss an den Nebentoren. Das muss ein Haupttor sein. Auf geht’s!«

      Ihr Wagen setzte sich wieder in Bewegung und kam beim Acht-Uhr-Glockenschlag vor dem westlichen Tor zum Stehen. Der Torwächter machte sich schon von innen an den Riegeln zu schaffen.

      »Wächter, lass uns noch passieren! Es ist Ostern – die Messe hat uns aufgehalten!«, rief Hans.

      »Ist in Ordnung. Ab sechs ist die Gebühr fällig: zwei Kreuzer. Macht vier für Euch! Wo müsst Ihr hin?«

      »Uns wurde die Ausspanne zum Rebstock in der Futterstraße empfohlen.«

      »Ja, Futterstraße ist auf jeden Fall gut. Ihr kennt den Weg? Frohe Ostern!«

      Hans hatte genickt, gab dem Mann ein paar Münzen, wünschte einen guten Abend sowie ein gesegnetes Osterfest, und dann kamen sie auf einer gut gepflasterten Straße in die Stadt, fuhren an der Reglerkirche der Augustinerchorherren vorbei, über den Waidanger nach rechts Richtung Kaufmannskirche mit ihren zwei Türmen, dann ein Stück durch die Johannesstraße, die von großen Waidhändler- und Brauhöfen gesäumt war, und schließlich links in die Futterstraße.

      Sie kehrten im Haus zum Großen und Kleinen Rebstock der Familie des Otto Ziegler ein. Es war ein stattliches Haus, das die Zieglers vor fünfzig Jahren gebaut hatten. Otto war alt, aber sein Sohn führte die Geschäfte der Brauerei, des Getreidehandels, der Ausspanne und des Gasthauses fort. Martin und Hans waren gleichermaßen beeindruckt, obwohl das Anwesen ihnen von einem Freund aus Mansfeld empfohlen und bereits ausführlich beschrieben worden war. Da waren die achtzehn Zinnen, die in den Farben der achtzehn Königreiche angemalt waren, die Otto während seiner ausgedehnten Reisen besucht hatte. Es waren dies das Römische Königreich, Kroatien, Sizilien, Frankreich, das Reich des Priesters Johannis, Dänemark, Böhmen, Dalmatien, Cypern, Portugal, England, Schweden, Ungarn, Neapel, Armenien, Mavarra, Schottland und Polen. Rechts, in Höhe des ersten Geschosses, prangte das Familienwappen: ein roter Hirschkopf im roten Felde.

      Den Hausnamen hatte der frühere Ratsherr Otto gewählt, nachdem er aus dem Heiligen Land einen Rebstock mitgebracht und bei sich eingepflanzt hatte. Angeblich ein Abkömmling der wunderbaren Reben des Landes Kanaan. Er stand noch immer im Innenhof und trug jeden Herbst reichlich Trauben.

      Hans klopfte an der großen Tür des Hauses. Otto der Jüngere öffnete und sagte, er werde das Tor öffnen lassen und bitte sie, zunächst Wagen und Pferde hineinzuführen, dann könnten sie vom Hof aus ins Haus kommen.

      Das weite, hohe Tor wurde von einem Stallknecht nach innen aufgezogen. Er übernahm auch gleich die Zügel und wies einen Stallburschen an, die Pferde von der Kutsche loszumachen und in den Stall zu führen.

      Von der Straße aus war die Größe des Innenhofes nicht zu erahnen gewesen. Es gab dort auf einer Seite fünf Stalltore, die zu den Pferdeständen führten, auf der anderen


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