Verrat verjährt nicht. Peter Gerdes
zu ihren Zigeunerlocken und ihrem sommerbraunen Teint. Na, tat der Anblick seine Wirkung wie schon so oft zuvor?
Der Beamte ließ sich nichts anmerken, prüfte ihre Papiere akribisch, während sein jüngerer Kollege hinter ihm stand und interessiert über seine Schulter blickte. Galt sein Interesse dem Boot oder der Steuerfrau? Schwer zu sagen, dachte Olivia. Das konnte teuer werden. Wurde es aber nicht. Der ältere Beamte beließ es bei einer kleinen Geldbuße und einer väterlichen Ermahnung, der jüngere grinste sie zum Abschied breit an. Aha, alles klar, dachte sie und grinste zurück. Vielleicht ein anderes Mal, am besten am Strand oder im Huntebad. Auf Uniformen stand sie nicht.
Nachdem der Polizeikreuzer kehrtgemacht hatte, um sich erneut auf die Lauer zu legen, blieb Olivia noch ein paar Minuten auf ihrem Kurs, wendete dann aber auch ihr Boot. Die Lust an einer längeren Ausfahrt war ihr vergangen. Sie hatte sich überzeugt, dass mit Sting alles in Ordnung war, und damit ihrer Eignerpflicht genügt. Jetzt lieber ins Studio und Eisen stemmen, richtig abreagieren, darauf hatte sie mehr Bock.
Diesmal hielt sie sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzung, unterquerte die Eisenbahnbrücke, ohne eine Öffnung abwarten zu müssen, da der Wasserstand inzwischen weit genug gefallen war, fuhr in Richtung Stadthafen und wollte dann nach links in den Stadtkanal einbiegen, der zum Huntebecken vor der Schleuse und zu ihrem Liegeplatz führte. Von dort näherte sich allerdings Gegenverkehr, ein ziemlich großes Binnenschiff voll mit Containern. Also stoppte sie und wartete ab, bis der Tausendtonner die Kurve bewältigt hatte. Dann erst fuhr sie zwischen die Spundwände, wo das Wasser immer noch von der Schraube des Binnenschiffs aufgewühlt war und schäumte, brachte den Stadtkanal hinter sich und steuerte ihren Liegeplatz an. Etwas flotter als erlaubt, denn jetzt wusste sie ja, wo das Polizeiboot lag.
Die Lücke am Steg, die sie beim Ablegen hinterlassen hatte, war noch frei. Das hintere Ende des langen Schwimmstegs war vom Huntebecken aus frei einsehbar, leere Plätze wirkten einladend. Manchmal legten Passanten, die nach der Schleusung eine Pause einlegen wollten, dort an, das führte jedes Mal zu Diskussionen. Diesmal nicht, dachte Olivia, zum Glück. Nach dem Erlebnis vorhin wäre sie womöglich grob geworden. Adrenalin war ein Teufelszeug.
Im spitzen Winkel steuerte sie die Lücke an, legte die vordere Spring und das Ende der Vorleine zurecht und vergewisserte sich, dass die Fender richtig hingen. Gut vorbereitet, waren solche Manöver auch allein gut zu schaffen. Die Strömung kam zuverlässig von vorn, von der Fischtreppe her, und war gut zu berechnen. Mit einem fein dosierten Gasstoß rückwärts brachte sie ihr Boot zum Stillstand. Jetzt die Einhebelschaltung auf Leerlauf gestellt und schnell auf den Steg gesprungen, das Auge der Spring über den Poller gestreift und die Vorleine durch den Ring gezogen, schon konnte sich Sting nicht mehr selbstständig machen. Das hatte sie oft geübt, das hatte sie drauf. Als sie sich nach dem Poller bückte, bemerkte sie, dass dort eine fremde Leine belegt war. Eine dünne Leine, die senkrecht ins Wasser zeigte. Was hatte die hier zu suchen? Fast hätte sie den richtigen Moment für die Spring verpasst; ihr Boot begann schon, rückwärts zu treiben, als sie das Auge des Festmachers endlich über den Poller warf. Schon kam die Leine steif und begann, unter dem Zug zu knarren. Olivia musste erst die Vorleine belegen, ehe sie sich darum kümmern konnte, was da am Poller ihres Liegeplatzes hing. Sie kniete sich auf die Holzplanken, beugte sich vor, näherte ihr Gesicht der Oberfläche des fließenden Wassers und versuchte, etwas zu erkennen. Was nicht einfach war, denn der Wasserspiegel reflektierte im Nachmittagslicht. Alles, was sie sehen konnte, waren ihre eigenen Augen. Augen und ein Gesicht. Aber ihr Gesicht war das nicht, und das waren auch nicht ihre Augen. Diese da waren zwar offen, aber blicklos, und die Gesichtshaut drum herum war bleich wie der Tod. Dort unter Wasser, an ihrem Liegeplatz, direkt unter ihr hing ein Toter. Olivia richtete sich kniend auf, schloss ihre Augen, atmete tief, zählte bis zehn, schaute erneut ins Wasser, in die blicklosen Augen. Dann stand sie auf, beendete das Anlegemanöver, stellte den Bootsmotor ab und rief die Polizei an. Ihre Stimme war ganz ruhig, und auch das Smartphone in ihrer Hand zitterte nicht.
2.
Heute
Erinnerungen, dachte Stahnke. Die leichten Bewegungen der sanft gebogenen Schwimmstegschlange unter seinen Schuhen, das gerade noch spürbare Abtauchen der Steg-Elemente unter seinem schweren Körper. An diesem Steg hatte einmal sein eigenes Boot gelegen, ehe er sich einen Liegeplatz in Elsfleth gesucht hatte, direkt an der Weser, näher an seinem damaligen Segelrevier. Später hatte dann Marian Godehau seinen alten Kutter hier festgemacht. Auch schon wieder lange her, kaum noch wahr. Und doch stand ihm alles plastisch vor Augen.
Jungredakteur Godehau und Sina Gersema, seine Kollegin und Freundin. Damals. Bis sie ihn verlassen hatte. Verlassen für einen deutlich älteren, seinerzeit noch schwergewichtigeren, oft knurrigen und alkoholgefährdeten Kriminalbeamten namens Stahnke. Marian hatte daraufhin Oldenburg verlassen, völlig frustriert, und sich einen Job beim Langeooger Inselboten gesucht. Sina hatte auf Psychotherapeutin umgeschult, Stahnke hatte sich nach Ostfriesland beworben. Letztlich waren sie alle drei immer wieder auf Langeoog zusammengetroffen. Ein ums andere Mal. Am Ende einmal zu viel.
»Herr Stahnke«, hauchte eine Stimme, nur einen Meter hinter ihm und doch wie aus einer anderen Welt. »Willkommen zurück an Ihrer alten Wirkungsstätte! Wie ich sehe, ist Ihnen noch alles wohlvertraut.«
»Moin, Herr Doktor.« Stahnke nickte kurz über seine Schulter. Er zuckte schon lange nicht mehr zusammen, wenn Doktor Mergner irgendwo auftauchte wie ein Geist aus einer Gruft. Der Zuständigkeitsbereich des Oldenburger Gerichtsmediziners umfasste auch Ostfriesland, und so waren sie in den letzten Jahren immer wieder beruflich aufeinandergestoßen. Immerhin eine Konstante. Ansonsten war bei der Kripo Oldenburg nichts mehr so wie damals, das hatte er schon nach wenigen Tagen im Dienst festgestellt. Aber wie auch immer, sein Abgang aus Leer war eine Flucht, und Flüchtlinge hatten keine Wahl.
»Gesprächig wie immer«, konstatierte Mergner. »Die neuen Kollegen beschweren sich bestimmt schon wegen der übermäßigen Kommunikation.« Irgendwie schaffte er es, sich auf dem schmalen Steg an Stahnkes ausladenden Schultern vorbeizuwinden und ihm vorauszueilen. »Wir sehen uns bei der Arbeit«, hauchte er noch, und Stahnke wunderte sich, dass seine Worte selbst unter freiem Himmel dumpf klangen. Auch darüber, dass sich kein weißer Arztkittel hinter dem dörrfleischdürren Mann bauschte. In Hemd und Freizeithose kannte er Mergner gar nicht. Sollte der Mann ein Privatleben haben? Vielleicht. War auch egal. Stahnke hatte momentan keins, deshalb war er gerade hier. In Oldenburg und an diesem Ort, der offenbar ein Tatort war.
Als der Hauptkommissar endlich das Ende des Steges erreicht hatte, kniete Mergner schon in der Pfütze, die sich auf den Planken rund um einen Toten gebildet hatte. Männliche Leiche, schlank, überdurchschnittlich groß, registrierte er automatisch. Die Arme über dem Kopf zusammengebunden, an den Handgelenken, mit einer dünnen Leine, deren anderes Ende zu einem Poller führte. Der Mann schien 60 Jahre alt zu sein oder älter, aber so weit gut erhalten. Volles, kurz geschnittenes Haar, anscheinend blond, vermutlich gefärbt. Bekleidet mit kurzärmeligem Oberhemd und knielanger Freizeithose, passend zum Fundort. Barfuß. Sonstige Merkmale … Stahnkes Gedankenfluss stockte. Eine Riesenfaust quetschte seinen Magen zusammen. Wie sahen diese Füße denn aus! Hinten und mittig schmal und mit hohem Spann, vorne breit. Unnatürlich breit, wie Flossen. Breitgequetscht. Sein Gehirn weigerte sich, eine Erklärung anzubieten für das, was er da sah.
»Prämortale Verletzungen«, sagte Mergner. »Eine Menge davon. Dort, an den Zehen, aber auch an den Unterschenkeln, hier und hier.« Sein Medizinerhirn arbeitete niederschwelliger. »Auch an den Händen und Unterarmen finden sich Quetschungen, Schnitte und Stiche. Muss teilweise heftig geblutet haben, aber das Wasser hat sämtliche Wunden ausgespült.«
»Wurde der Mann gefoltert?«, fragte einer aus der Gruppe, die um Mergner und den Toten herumstand. Zwei Männer trugen Uniform, zwei Frauen weiße Ganzkörperanzüge; der Sprecher hatte Jeans, Oberhemd und Weste an. Für Stahnke sah er aus wie ein Abklatsch von Marian Godehau: um die 40 Jahre, halblange braune Locken, struppiger Bart, schief sitzende, getönte Brille. »Oder könnten die Verletzungen von einer Bootsschraube stammen?«, fragte der Mann weiter.
Mergner blickte auf, schüttelte kurz den Kopf. »Natürlich wurde er gefoltert«, erwiderte er milde. »Und nein, Schraubenverletzungen sehen anders aus.