Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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in London oder in Riga wohnen. Sobald wir ein Buch in die Hand nehmen, ist sie präsent, sobald wir Fernsehen schauen, ist sie gegenwärtig. Diese aristotelische Poetik ist immer noch ein Grundlagentext nicht nur des Studiums der deutschen Literatur, sondern ein Grundlagentext der kulturellen Denkfigurkulturelle Denkfigur ‚Europa literarisch‘. Dieser Text ermöglicht uns mit analytischer Klarheit beispielsweise von Fallhöhe und Ständeklausel, von MimesisMimesis und KatharsisKatharsis, vom Tragischen und Komischen zu sprechen, aber eben auch von den AffektenAffekte. Der Kern von ‚Europa literarisch‘ liegt hier. Und noch der italienische Schriftsteller und Linguistikprofessor Umberto EcoEco, Umberto spielt in seinem Roman Der Name der RoseDer Name der Rose meisterhaft mit diesem aristotelischen Erbe, wenn er den verlorenen zweiten Teil der Poetik über die Komödie in den Flammen einer klösterlichen Bibliothek aufgehen und untergehen lässt. AristotelesAristoteles hat darüber nachgedacht, wie es kommt, dass wir von dem einen Buch angetan sind, das andere aber in die Ecke legen mögen, dass wir uns vor einer Krimisequenz fürchten und an anderer Stelle einer Telenovela verschämt eine Träne aus dem Augenwinkel streichen, dass wir mitweinen, mitleiden, mitfühlen oder völlig ungerührt sind. Aristoteles entdeckt die Empathie als Quelle der Literatur. Ausgangspunkt seiner Reflexion ist jene berühmte Stelle in der PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles), wo er von der Reinigung der LeidenschaftenLeidenschaften spricht, wonach eine gute Tragödie die Reinigung von FurchtFurcht und MitleidMitleid und möglicherweise von anderen Affekten bewirke.

      Wer brachte uns das Wissen um BuchdruckBuchdruck, LiteraturLiteratur, Handschriften, kurz Wissenschaft? Die griechische Literatur gibt darauf eine klare Antwort, sie stellt eine Erzählung und Denkfigur bereit, die in vielfacher Weise für die europäische Literatur normbildend geworden ist, es ist die mythologische Gestalt des PrometheusPrometheus. Gottfried BennBenn, Gottfried nannte ihn einen „seltsam durch Jahrhunderte eindrucksvoll gebliebene[n] Geist“13. Prometheus wird in der europäischen RezeptionRezeption zum SymbolSymbol für Kulturmacht. Den europäischen Leittext für diese Denkfigur hat der griechische Dichter AischylosAischylos mit seinem PrometheusPrometheus-Drama geschrieben und noch André GideGide, André wird darauf mit einer PrometheusPrometheus-Erzählung 1899 antworten. AischylosAischylos übernimmt aus dem Mythengut seiner Zeit den Raub des Feuers durch Prometheus als dessen eigentliche Tat, für die er bestraft wird. Zunächst versteht Aischylos dies auch ausschließlich vordergründig, nämlich buchstäblich. Die Tat erfährt aber nach kurzer Zeit ihre symbolische Steigerung durch Prometheus selbst. Damit ist für alle späteren Nachdichtungen und Umdichtungen die symbolische Verständnisebene der Feuerraubtat vorgegeben. Denn Aischylos entfaltet „den Raub des Feuers […] zu einer allseitigen Begründung der KulturKultur“14. Diese kulturgründenden Leistungen werden im Stück detailliert aufgeführt und betreffen unter anderem Vernunft (V. 444), Zahl (V. 459), Schrift (V. 460), Ackerbau (V. 462), Heilkunst (V. 480) und Weissagungskunst (V. 484). Die Verfügungsgewalt über das Feuer impliziert neben diesen kulturgründenden Leistungen auch den größten Teil der künstlerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Kunst hat dabei die Doppelbedeutung von künstlerischem und von handwerklichem Vermögen, wie beispielsweise Dichtkunst, Baukunst oder Redekunst.

      Zu den Allgemeinplätzen einer Interpretation der AntigoneAntigone des SophoklesSophokles gehört es, daran zu erinnern, dass es in diesem Drama um das Widerspiel von Individuum und Gesellschaft, von Einzelnem und Staat, von individuellem Recht und Staatsräson gehe. Tatsächlich aber steht im Mittelpunkt dieses Dramas der Mensch. Das Problem des Menschseins macht das Drama überhaupt aus und begründet seine überhistorische Dignität. Damit rückt eine Textstelle ins Zentrum, die in der Forschungs- und Deutungsgeschichte des Textes eine Vielzahl von Kontroversen ausgelöst hat. In der Übersetzung nach Karl Reinhardt heißen die Verse: „Viel des Unheimlichen ist, doch nichts / ist unheimlicher als der Mensch“ (V. 332f.)15. Das griechische Wort deinós gestattet jedoch außer „unheimlich“ auch die Übersetzung mit „furchtbar“ und „gewaltig“. Hier wird die Unbegreifbarkeit des MenschenMensch durch sich selbst hervorgehoben. Menschliche Vernunft vermag nicht die generelle Begreifbarkeit menschlichen Handelns zu garantieren. Es bleibt ein nicht begreifbarer irrationaler Rest. Die Antigone und mit ihr der Dichter Sophokles verdeutlichen einige grundlegende anthropologische Linien. So kann man etwa dem Götterfluch nicht entrinnen. In die ModerneModerne übertragen und decodiert ließe sich das so formulieren: Es ist unmöglich, ein familiensystemisch schweres Erbe ungeschehen zu machen. Man muss sich dem stellen, wenn es dem Einzelnen Leid verursacht. Sophokles bedient sich hier der griechischen Ödipus-Sage, um dies zu veranschaulichen. Und wenn es einen Widerstreit zwischen göttlichem Gebot und Menschenrecht gibt, der keine Harmonisierung zulässt, dann führt dies zu schweren Gewissenskonflikten. Auch dies ist ein zeitloses Thema europäischer LiteraturLiteratur, der Widerstreit zwischen individueller Gewissensentscheidung und dem Zwang zur mehrheitlichen Normbefolgung. Ferner, der Mensch ist das sich selbst überhebende Wesen, er wird als furchtbar, gewaltig, unheimlich, von sich und durch sich nicht zu begreifen charakterisiert. Dem Menschen eignet eine Antinomie von Ratstarrigkeit und Reflexivität, die sich selten in eine Balance bringen und damit in einer Vermittlung der Gegensätze aufheben lässt, sondern dieser Antinomie wohnt stets die Neigung zu den Extremen inne. Gut und Böse begrenzen den Handlungsspielraum des MenschenMensch und kennzeichnen alle seine Handlungen. Und schließlich sind Erkenntnis und Selbsterkenntnis für den Menschen auf tragische Weise oftmals retrospektive Handlungsformen der Vernunft. Die Einsicht in Fehler und ein richtiges Verhalten kommen dann zu spät.

      Bertolt BrechtBrecht, Bertolt hat 1948 ein AntigoneAntigone-Gedicht geschrieben, worin es heißt:

      „Komm aus dem Dämmer und geh

      Vor uns her eine Zeit

      Freundliche, mit dem leichten Schritt

      Der ganz Bestimmten, schrecklich

      Den Schrecklichen.“16

      Begreift man das Antigone-Thema als die Figuration menschlichen Handelns, so prägen zwei psychohistorisch und soziohistorisch bedingte Verhaltensweisen das menschliche Handeln. Zum einen ist es der FremdzwangFremdzwang, wonach der Mensch als ein In-Beziehung-Gesetzter verstanden wird. Dies wird im Antigone-Drama des SophoklesSophokles veranschaulicht durch den Götterfluch, durch die verwandtschaftlichen, herrschaftlichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen, sowie durch das Götterrecht. Der Mensch vermag zwar in der Lesart der Antigone Fremdzwang zu erkennen, nicht aber grundsätzlich zu ändern. Daraus ergibt sich der Gegensatz von situativer Kenntnis und retrospektiver Erkenntnis. Zum anderen der Selbstzwang, wonach der MenschMensch als Sich-In-Beziehung-Setzender verstanden wird. Dies wird im Drama veranschaulicht durch den aus der Gegensätzlichkeit von Ratstarrigkeit und Reflexivität folgenden Konflikt, durch die Entscheidung für Gut und Böse, durch das Menschenrecht und durch die Darstellung von Handlungsreflexion und Handlungspraxis. Der Mensch vermag durch Selbsterkenntnis SelbstzwangSelbstzwang zu erkennen. Auch hieraus resultiert aber der Konflikt von situativer Kenntnis und retrospektiver Selbsterkenntnis. So stellt sich also das Antigone-Thema dar als die Einsicht in die tragische Situation des Menschen, dem eine prospektive Handlungserkenntnis nicht vergönnt ist, dem diese Tragik mithin wesentlich eignet. Genau dies behauptet die Politik (nicht nur zu Wahlkampfzeiten). Es heißt dann: Wählen Sie mich, weil ich in der Lage sein könnte, dies und jenes zu tun oder zu verhindern. Mit SophoklesSophokles argumentiert ist diese prospektive Handlungserkenntnis nicht oder nur sehr bedingt möglich, weil – und nun gesellen wir Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich hinzu – wir es mit ‚Fragmenten aus der Zukunft‘ zu tun haben.

      Wenn wir diese wenigen literarischen Grundlinien, die Europa durchziehen und strukturieren, mit gehörigem Abstand betrachten, dann können wir sagen, es gibt gewissermaßen eine europäische Kryptogeschichte, eine Geschichte, die im Verborgenen verläuft, wie ein unterirdisches Wassersystem, das vielerlei Sedimente mit Nahrung und Energie versorgt. Diese europäische Kryptogeschichte ist dokumentiert in Kunst, KulturKultur und LiteraturLiteratur. Vor diesem Hintergrund sollte es uns beim Thema Europa vielleicht doch auch um den Gedanken der Wahrung kultureller Identitäten und um die Achtung kultureller Differenzen gehen angesichts dieser ungemein dichten historischen Durchdringungen. Und das ist, ganz vorsichtig formuliert, nicht nur eine politische Aufgabe. Wenn aber Europa eine Aufgabe ist oder, um noch einmal an das Wort Friedrich Schlegels zu erinnern, wenn Europa ein Projekt der


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