Harzkinder. Roland Lange
Ich will das nicht mehr. Ich will nur leben, hörst du? Überleben! Nur meinen Hintern retten und in Ruhe gelassen werden. Und genau da liegt mein Problem.“
„Problem? Inwiefern?“
„Diejenigen, in deren Augen ich ein Verräter bin, laufen immer noch frei herum, sind zum Teil sogar bestens in die freie demokratische Gesellschaft integriert, bis hinauf in führende Positionen in Politik und Wirtschaft. Sie sind hervorragend vernetzt. Sofern sie nicht schon das Zeitliche gesegnet haben. Diese Leute vergessen nicht. Am allerwenigsten einen Verrat. Sollten sie jemals von meiner neuen Identität erfahren, werden sie mich bis ans Ende der Welt jagen. Die hören erst auf, wenn sie mich zur Strecke gebracht haben. Verstehst du jetzt?“
Katja wiegte den Kopf. „Klingt schon ein wenig neurotisch, oder?“
„Neurotisch, ha! Du hast keine Ahnung!“
„Jaja, schon gut. Vor mir brauchst du jedenfalls keine Angst zu haben.“
Blume fingerte seine Zigarettenpackung und ein Feuerzeug hervor und hielt Katja beides hin.
Sie hob abwehrend die Hände. „Nein, danke. Habe es mir abgewöhnt. Und wenn du unbedingt rauchen musst, darfst du das gerne tun, aber draußen.“ Blume zuckte mit den Schultern, steckte die Zigaretten wieder weg. „Im Grunde will ich nichts anderes als du“, fuhr Katja nachdenklich fort. „In Frieden leben.“
Blume ließ ihre Worte unkommentiert im Raum hängen. „Was ist mit dir?“, fragte er nach einem Moment grüblerischer Stille. „Hat man dich nie zur Rechenschaft gezogen?“
Sie grinste abfällig. „Nein. Nie. Ich war wohl ein zu kleiner Fisch. Bin durchs Netz gerutscht. War in deren Augen wahrscheinlich nicht wichtig genug gewesen als Sachbearbeiterin im Jugendamt.“
„Und deine Akte? IM Ribanna?“
„Wie du unten im Saloon schon sagtest. Die Akte gab es nicht. Oder nicht mehr. Ich habe auch nachgeforscht. War verloren gegangen oder ist vernichtet worden. Keine Ahnung. Für einen Moment habe ich damals geglaubt, dass du vielleicht deine Hände im Spiel gehabt haben könntest. Aber dann dachte ich, dass du sicher genug mit dir selbst zu tun gehabt hast.“
Er schluckte. So, wie sie es sagte, klang es vorwurfsvoll. Er fühlte sich augenblicklich schuldig. Aber warum? Jeder hatte damals mit sich selbst zu tun. Jeder hatte versucht, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, zumindest alle, die aus Sicht der westlichen Justiz schuldig geworden
waren. Er gehörte zu dieser Gruppe, musste seine Haut retten. Da blieb keine Zeit für andere. Auch nicht für Katja.
„Wie bist du eigentlich an diesen Western-Schuppen gekommen?“, beeilte sich Blume auf ein unverfängliches Thema zu lenken.
„Nach der Wende habe ich verschiedene Jobs gemacht. Alles so Gelegenheitsdinger. Nichts Festes. Im Öffentlichen Dienst bin ich nicht wieder untergekommen und, ehrlich gesagt, ich wollte es auch nicht. Dieser bürokratische Moloch ... davon hatte ich genug. Eine Zeit lang habe ich in einem Restaurant gejobbt. Da ist mir Martin über den Weg gelaufen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir haben sehr schnell geheiratet. Martin kannte diesen Saloon hier, war mit dem Inhaber befreundet. Damals nannte sich das Lokal noch Campfire Saloon. Wir waren sehr oft dort. Haben uns mit anderen Western-Fans zum Squaredance getroffen und noch andere verrückte Sachen gemacht. Wirklich gut lief der Laden aber nicht. Karl, der Inhaber, war nahe daran, alles hinzuschmeißen. Dann kam Martins Unfall. Er hatte eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen gehabt. Ich habe Karl später überredet, mit dem Lokal weiterzumachen und mich mit dem Geld aus der Versicherung bei ihm eingekauft. Aus Campfire wurde Ponytail. Der Name des Saloons war das Erste, was wir geändert haben, darüber hinaus aber auch noch etliche andere Sachen. Live-Musik ist dazugekommen. Vor allen Dingen aber habe ich die Speisekarte runderneuert und einen Koch eingestellt, der sein Handwerk wirklich versteht.“ Sie deutete auf seinen Teller. „Davon konntest du dich gerade überzeugen.“
Blume nickte. „Stimmt. War sicher eine gute Maßnahme.“
„Allmählich kamen die Gäste zurück und es ging wieder bergauf. Heute stehen wir so da.“ Sie reckte den Daumen in die Höhe. „Tja, das ist meine Geschichte.“
Blume lehnte sich zurück, nahm das Glas, in dem sich noch ein Rest Bier befand, hielt es gegen das Licht der Küchenlampe und betrachtete es nachdenklich. „Mhm“, brummte er, „das heißt dann wohl, du hast es geschafft. Hast den Systemwechsel ohne größere Blessuren überstanden und dich etabliert. Gratuliere.“
„Das hört sich jetzt irgendwie nicht so an, als ob du es mir gönnst. Eher ein bisschen hämisch.“ Sie winkte ab. „Egal, nehme ich dir nicht übel. Aber jetzt noch mal zu dir – ich weiß immer noch nicht, weshalb du hier bist. Du brauchst meine Hilfe, hast du gesagt. Worum genau geht es dabei?“
Blume blickte auf seine Armbanduhr. „Ist schon ein bisschen spät. Eigentlich bin ich zu müde, um jetzt noch darüber zu reden. Und wieder nach Hause fahren möchte ich auch nicht mehr. Kann ich vielleicht bei dir ...“
Sie unterbrach ihn, indem sie abwehrend die Hand hob. „Moment! Du glaubst jetzt aber nicht, wir machen einfach da weiter, wo wir damals aufgehört haben, oder?“
„Oh, tut mir leid. Missverständnis.“ Er deutete zur Tür. „Ich dachte dabei an die Couch im Wohnzimmer. Ginge das? Und morgen, wenn wir ausgeschlafen sind ...“
Sie lächelte erleichtert. „Ich weiß was Besseres: Oben habe ich eine kleine Einliegerwohnung. Die vermiete ich an Urlaubsgäste. Die nächsten Tage ist sie nicht belegt. Ich denke, da fühlst du dich wohler als auf meiner Couch. Dreißig Euro die Nacht. Weil du es bist. Frühstück inklusive.“
„Das Haus gehört also auch dir?“, wunderte sich Blume.
„Richtig. Das habe ich mir ebenfalls gegönnt, außerdem bin ich hier an der Ferienhaussiedlung beteiligt. Ja, der Kapitalismus hat schon seine schönen Seiten. Also, was ist? Nimmst du die Wohnung?“
Blume zuckte müde mit den Schultern. „So ein Angebot kann ich wohl kaum ausschlagen.“
„Gut, dann legen wir uns jetzt schlafen. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr hier in der Küche. Und beim Frühstück sagst du mir, wie ich dir helfen kann.“
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