DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT. Klaus Hübner
einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind. Ein jedes wohlerfundene Gedicht ist darum nicht anderst anzusehen als eine Historie aus einer anderen möglichen Welt.« Das stammt von Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und steht in seiner 1740 veröffentlichten Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. Dieses Werk wird zitiert, sobald es um den für das 18. Jahrhundert zentralen, bisweilen sehr hitzig ausgefochtenen »Literaturstreit« zwischen den »Leipzigern« und den »Zürchern« geht. Der Zwist mag heute nur noch Germanisten interessieren, Bodmer aber bleibt eine hochinteressante Persönlichkeit, ebenso wie sein Freund und Mitstreiter Johann Jakob Breitinger (1701–1776). Dass man sie, weit über ihre Schriften gegen Gottsched und Konsorten hinaus, als Überväter des geistigen Zürich im 18. Jahrhundert und damit als Begründer einer neuen intellektuellen Metropole Europas bezeichnen darf, legt ein ziegelsteingroßer, brandaktueller und streckenweise sehr spannender Sammelband nahe, den ironischerweise zwei an der Universität Bern lehrende Expertinnen herausgegeben haben. Eine von ihnen, Barbara Mahlmann-Bauer, hat Bodmer und Breitinger übrigens einen lesenswerten Beitrag in der Zeitschrift Der Deutschunterricht (4/2009) gewidmet – deren Schwerpunktthema heißt, für eine deutsche Fachzeitschrift beinahe sensationell: »Zürich«.
Die beiden Johann Jakobs, die von der Geschichtsschreibung und der geisteswissenschaftlichen Forschung bis vor Kurzem arg vernachlässigt worden sind, haben es in sich. Das neue, aus einer Zürcher Tagung hervorgegangene Grundlagenwerk versucht, ihrem reichhaltigen Lebenswerk mit zweiunddreißig auf sieben Abteilungen verteilten Aufsätzen und einem nützlichen Anhang gerecht zu werden und mit alten Vorurteilen aufzuräumen. Die ersten fünf Studien, darunter ein grandioser Essay von Carsten Zelle, widmen sich der »Ästhetik und Poetik« der beiden Zürcher. Dann geht es um »Theologische Positionen«, wobei das Collegium Carolinum eine wichtige Rolle spielt – wie denn überhaupt herauszustellen ist, dass die Verwurzelung Bodmers und Breitingers in ihrer Vaterstadt in diesem Buch sehr zu Recht gebührend berücksichtigt wird. Das gilt besonders für die dritte Abteilung, die die Überschrift »Bodmers Schauspiele und vaterländische Geschichte« trägt, aber auch für die vierte, die »Zürcher Schüler und Zeitgenossen« vorstellt, unter ihnen Lavater, Hirzel, Klopstock und Wieland. Zwei äußerst aufschlussreiche Abhandlungen machen Teil V aus: Christoph Eggenberger beschäftigt sich mit Bodmers »Entdeckung« der Manessischen Liederhandschrift, und Gesine Lenore Schiewer nimmt seine Sprachtheorie unter die Lupe – zu beiden Themen hätte man, kritisch sei’s angemerkt, gerne noch mehr gelesen. Weitere fünf Studien drehen sich um die »Beziehungen zu den Künsten und zur Musik«, und die Abteilung VII bildet Urs B. Leus hilfreiche Arbeit über Bodmers Privatbibliothek. Natürlich ist das Ganze, wie schon die luzide Einleitung deutlich macht, auf dem neuesten Stand der Forschung. Um Lesbarkeit hat man sich ebenfalls bemüht – sprachliche Verstiegenheiten sind selten. Fazit: ein dicker kulturwissenschaftlicher Wälzer, das schon. Aber quicklebendig und hochinteressant für alle, die sich für die Vergangenheit des intellektuellen Zürich und die Geistesgeschichte der Schweiz begeistern lassen.
Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009: Wallstein Verlag. 880 S.
Was wären die Alpen ohne ihn?
Albrecht von Haller ist nicht tot
Ein bekannter Unbekannter ist dieser Albrecht von Haller, selbst in der Schweiz. Als Schriftsteller war Haller – »ein europäischer Hauptname im 18. Jahrhundert« (Leif Ludwig Albertsen) – lange Zeit hindurch so gut wie vergessen. Selbst Germanisten verwiesen, meist ein wenig lustlos, lediglich auf sein Lehrgedicht Die Alpen (zuerst 1729), das viele von ihnen eher aus den einschlägigen Literaturgeschichten kannten denn aus eigener Lektüreerfahrung – von wenigen Spezialisten abgesehen, unter denen an erster Stelle Karl S. Guthke zu nennen ist. Das beginnt sich zu ändern, und so entpuppt sich das zunächst willkürliche Diktat der runden Zahl letztlich als ein Segen. Zum dreihundertsten Geburtstag war einiges geboten, und das keineswegs nur in Bern. Neue Publikationen gibt es auch. Zwar ist bedauerlicherweise kein Haller-Lesebuch erschienen, aber immerhin eine sein Andenken sicherlich belebende Haller-Ausgabe der Berner Universitätszeitschrift UniPress. Ein ganzes Themenheft widmet die »Schweizerische Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts« dem Dichter, Arzt, Naturforscher und Magistraten – man könnte Haller übrigens mit zahlreichen weiteren Bezeichnungen zu charakterisieren suchen und hätte doch immer nur einen Teil seines Wirkens erfasst. Dessen gewaltigen Umfang nimmt jetzt eine Publikation ins Visier, die man zweifelsohne als die mit Abstand gewichtigste Neuerscheinung im Haller-Jahr würdigen muss. Ihr Titel ist Programm: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Es handelt sich um einen repräsentativen Sammelband, an dem zweiundzwanzig Wissenschaftler mitgewirkt haben, unter ihnen erfreulicherweise viele jüngere. Und eines macht dieser Band bald ganz deutlich: Haller ist nicht tot!
Über das Zustandekommen des Kompendiums unterrichtet das Vorwort der Herausgeber. Aber es tut noch mehr: Es nennt ohne Scheu die mutmaßlichen Gründe dafür, dass Leben, Werke und Wirkungen Albrecht von Hallers heute »weitgehend aus dem Kanon der Allgemeinbildung verschwunden« sind. Sein Lebenslauf sei nicht so leicht fassbar und dramatisierbar wie zum Beispiel der Rousseaus; jegliche Poesie vor den 1770er-Jahren sei heutigen Lesern schwer zugänglich (was durchaus bezweifelt werden darf); als Romanautor und politischer Schriftsteller sei Haller zu didaktisch; als orthodoxer Theologe stehe er oft konträr zur modern-aufklärerischen Religionskritik; als Literaturkritiker sei er rasch von der nachfolgenden Generation um Lessing abgelöst worden; als Magistrat und Berner Patriot sei er im europäischen Kontext nicht so bedeutend. Und dass Haller »der wohl am besten und internationalsten vernetzte Wissenschaftler seiner Zeit« gewesen ist und »eine wichtige Schaltstelle in der europäischen Wissensproduktion« einnahm, dafür habe sich die Forschung erst in allerjüngster Zeit wirklich interessiert. Fazit: »Haller lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Die Schwierigkeit, ihn zu erfassen und zu erklären, wird erhöht durch ein vielschichtiges und äußerst umfangreiches Werk, das zudem in unterschiedlichen Sprachen (Latein, Französisch, Deutsch) abgefasst und nur teilweise in Übersetzungen greifbar ist.« Diese Probleme allerdings, die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit Hallers, sprächen nicht gegen, sondern für die verstärkte Beschäftigung mit dieser bewunderungswürdigen Persönlichkeit. Der reich bebilderte neue Band ist der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung. Wer also ist dieser Haller?
Seinen Lebenslauf stellt Urs Boschung in allen Details dar, und dessen Hauptschauplätze Bern und Göttingen führen François de Capitani und Ulrich Hunger vor Augen. Man erfährt viele Details über Hallers Verwandtschaft und über die Berner Kindheit, die 1718 mit der Aufnahme in die Hohe Schule fast schon wieder zu Ende ist. »Im zwölften Jahre fieng er an deutsche Verse zu verfertigen, und von der Zeit an, bis in sein 15. und 16tes Jahr herrschte die Liebe zu der Dichtkunst auf eine unwiderstehbare Weise in seiner Seele«, wird Johann Georg Zimmermann zitiert, Hallers erster Biograf. 1722 bis 1723 lernt Haller in Biel, 1723 bis 1725 studiert er in Tübingen Medizin. Er wechselt nach Leiden in Holland, wo es ihm ganz vorzüglich gefällt, und schließt 1727 sein Studium ab – bestens ausgebildeter Arzt, und das mit neunzehn Jahren! Es folgen Reisen nach London und Paris, ein begieriges Aufnehmen alles Neuen, auch schon erste schwerere Krankheiten, und dann, von Basel aus und mit Gessner, seinem Freund: eine Reise durchs Vaterland. »Die Erfahrungen der Schweizerreise, die in starkem Kontrast zu Eindrücken von London und Paris standen, aber auch manches Gelesene verarbeitete er im Gedicht Die Alpen, Heldengedichte« (Urs Boschung). Diesen neunundvierzig Strophen mit jeweils zehn jambischen Alexandrinern, die die »Gemüthsruh« des alpinen »homo helveticus« besingen und letztlich »ein Lob des gesunden Landlebens im Sinne der alten römischen Optimates« darstellen (Leif Ludwig Albertsen), verdankt der Dichter Haller seine im 18. Jahrhundert vor allem von Herder und Schiller beförderte Unsterblichkeit. Im Mittelpunkt steht der Mensch: »Der Älpler ist selig, weil er bei sich ist und weder einem Noch-Nicht nachstrebt noch einem Nicht-Mehr nachtrauert, sondern in Gemeinschaft mit der Natur und somit in natürlicher Ordnung lebt« (Eric Achermann). Die Alpen, naturwissenschaftliche Beobachtung und lyrisch verpackte Moralphilosophie kunstvoll verknüpfend, wurden zum »Ursprung des modernen Alpenmythos« (Rémy Charbon) und blieben wirkungsmächtig bis ins 20. Jahrhundert hinein – obwohl ihr