Hannah und die Anderen. Adriana Stern
»Da wärst du aber die erste Erwachsene, die das wirklich nicht macht.«
»Na, und?« Janne grinste. »Kennst du vielleicht Erwachsene, die Pur gut finden?«
»Okay. Eins zu null für dich«, stimmte Hannah anerkennend zu und Janne spürte, dass sie ihr ein wenig vertraute.
Die Abschlussarbeiten, die notwendig waren, um den Laden verlassen zu können, nahmen jeden Tag etwa eine halbe Stunde in Anspruch. Hannah hatte sich aus einem der Regale ein Jugendbuch ausgesucht, in das sie sich vertiefte, während Janne zügig und konzentriert die letzten Arbeiten erledigte. Ihr fiel wieder ein, dass sie mit Noa verabredet war.
Gut, dass sie einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Dann kommt sie auf jeden Fall rein, falls ich erst nach acht mit Hannah nach Hause komme. Dann dachte sie: Oh, vielleicht ist das keine so gute Idee, dass Noa einfach so bei mir auftaucht. Vielleicht macht es Hannah Angst. Auch, überlegte sie weiter, weil sie im Mädchenhaus arbeitet, und möglicherweise denkt Hannah dann noch, ich hätte heimlich im Mädchenhaus angerufen.
Janne spürte, wie schnell das hauchdünne Vertrauen, das Hannah ihr entgegenbrachte, zerstört werden konnte. Durch ihre Arbeit als Selbstverteidigungstrainerin wusste sie, wie wichtig es war, auf gar keinen Fall etwas gegen den Willen eines Mädchens zu unternehmen. Ganz egal, wie sinnvoll ihr ihre Ideen vorkommen mochten.
Dass Menschen gegen Hannahs Willen über sie bestimmt hatten, ihr Gewalt angetan hatten oder Schlimmeres, um dann auch noch zu behaupten, es sei nur zu ihrem Besten, das hatte sie zu Hause mit Sicherheit schon zur Genüge erlebt.
Dass es bei Hannah um Schlimmeres ging, dessen war sich Janne sicher.
Wahrscheinlich hat niemand ihre Situation erkannt oder ihre Hilferufe ernst genommen. Wer weiß, Erwachsene haben gerade in dieser Hinsicht oft erstaunliche Bretter vorm Kopf, grübelte Janne.
Sie würde Noa anrufen und ihr erklären, dass sie sich später noch einmal melden würde. Noa würde das schon verstehen.
»Du, Hannah?« Janne ging zu dem kleinen Lesetisch, an dem das Mädchen saß und um sich herum alles vergessen zu haben schien. Hannah fuhr unwillkürlich auf.
»Oh, Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich will kurz eine Freundin anrufen, die mich heute Abend besuchen wollte, und ihr absagen. Weil ja heute du schon mein Besuch bist.«
Hannah sah erstaunt aus und auch ein wenig stolz. »Ja?«, fragte sie. »Bin ich dein Besuch?«
Janne lachte und bestätigte das, und Hannah strahlte über das ganze Gesicht.
»Okay, Hannah, ich rufe dann also mal kurz an.«
Sie wandte sich dem Telefon zu und warf dabei einen Blick auf den kleinen Wecker, der direkt zwischen dem Telefon, den Notizzetteln und der Stiftbox stand. Es war schon halb acht.
Noa war sicher noch zu Hause. Der Weg von ihr zu Jannes Wohnung betrug nur etwas mehr als einen Kilometer. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter. Noa besprach ihren AB grundsätzlich zweisprachig, weil sie viele Leute kannte, die nur Englisch verstanden. Leider dauerte es deswegen immer ewig, bis der Signalton zu hören war.
»Mensch, hallo. Da hast du aber Glück gehabt, dass du mich noch erreichst. Ich wollte gerade los. Ist irgendwas passiert?«
»Ja«, erwiderte Janne. »Das kann man schon so sagen. Ich habe überraschend Besuch bekommen. Ich würd’s dir gern später erklären. Ist das in Ordnung so?«
»Ja. Ja, klar. Was denn für Besuch?«
»Ich kann und will im Moment nichts dazu sagen. Lass uns doch einfach später noch mal telefonieren, okay?«
Noa schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ja gut, Janne. Ich hab mich nur so auf dich gefreut, weißt du. Schade, dass wir uns nicht sehen. Ruf mich auf jeden Fall an, vergiss es nicht, ja?
»Ja, natürlich ruf ich dich an. Sei mir nicht böse. Diesmal kann ich es wirklich nicht anders lösen.« Janne spürte Noas Enttäuschung. »Bis später, liebste Noa. Ich vermisse dich und ruf dich bestimmt an.« Sie murmelte »Scheiße«, als sie den Hörer auf die Gabel zurückgleiten ließ.
Hannah, die immer noch unverändert am Lesetisch saß, sah von ihrem Buch auf. »Du?«, fragte sie. »Kann ich das Buch vielleicht ausleihen und bei dir weiterlesen? Es ist wirklich total spannend.«
»Ja, klar. Zeig mal, was liest du denn da?«
Hannah reichte ihr das Buch. Janne kannte es gut. Es war die Geschichte eines Mädchens, die zusammen mit einigen Delphinen ihrem autistischen Bruder half, in die Welt der Sprache zurückzufinden.
»Weißt du, ich würde dir das Buch gerne schenken.«
Hannah überlegte einen Moment, bevor sie fragte: »Weil es dir gefällt?«
»Ja, genau. Deshalb würde ich es dir gern schenken.«
Hannah legte den Kopf schief und lächelte. »Danke. Ich freue mich«, sagte sie nur, stand auf, klappte das Buch zu und verstaute es in ihrem Rucksack. Sie klaubte auch ihre immer noch feuchten Kleidungsstücke von den verschiedenen Heizkörpern und stopfte sie ebenfalls in den Rucksack, der nun aus allen Nähten zu platzen schien.
»Ist ja ein richtiger Geschenketag heute«, kommentierte sie den Anblick und verwandte dann ziemlich viel Kraft darauf, den Rucksack zuzuschnüren.
Es nieselte noch immer, und Hannah und Janne liefen schweigend zur nächstgelegenen U-Bahnstation. Sie mussten einige Minuten auf den nächsten Zug warten, und in der grellen Beleuchtung auf dem Bahnsteig schien Janne alles wie unwirklich.
Hannah trat von einem Fuß auf den anderen. Ihr schien der Bahnsteig auch nicht sonderlich zu gefallen. Als die U-Bahn nach einer Ewigkeit einfuhr, murmelte sie »na endlich«. Schweigend schaute sie aus dem Fenster, obwohl es dort nichts zu sehen gab außer den tiefschwarzen Wänden des Schachtes.
Janne betrachtete sie heimlich. Da stecke ich mal wieder mitten in einem Abenteuer, dachte sie. Wer weiß, wohin es mich führen wird. Sie lächelte und in diesem Augenblick trafen sich ihre Blicke mit Hannahs.
»Woran hast du gerade gedacht?«, wollte Hannah wissen
»Ich habe überlegt, dass ich es abenteuerlich finde, jetzt mit dir zusammen zu mir zu fahren.«
»Echt? Na ja«, fügte Hannah nach einem Zögern hinzu, »könnte man wahrscheinlich schon als Abenteuer bezeichnen. Hoffentlich eins mit Happy-End.«
»Ja, das wünsche ich mir auch«, erwiderte Janne.
Der Himmel hatte sich aufgeklart, und Janne sah vereinzelte Sterne und einen wunderschön großen, fast orangen Halbmond schräg über ihrem Kopf.
»Sieh mal«, wollte sie gerade sagen, doch da wies Hannah bereits mit dem Finger in den Himmel und Janne wusste, dass sie genau das Gleiche sah, und nickte.
»Sogar der Regen hat aufgehört«, bemerkte Hannah. »Und so ein schöner Mond. Bestimmt wird alles andere jetzt auch noch gut.«
Janne fragte nicht nach, was Hannah damit meinte.
Als das Licht in der Diele von Jannes Haus aufleuchtete, blühte Hannah auf. »Wow.« Sie blieb mitten im Flur stehen und sah sich um. Janne hatte die Tür zum Wohnzimmer offen gelassen, und mit einem »Darf ich mich hier umsehen« verschwand Hannah darin.
Janne folgte ihr. »Ja, also, das ist mein Wohnzimmer.«
Hannah nickte. »Das ist toll, so riesig irgendwie und mit so vielen Fenstern«, staunte sie.
»Ja, wenn die Sonne scheint, dann wandert sie von morgens bis abends durchs Zimmer«, lachte Janne.
»Ist das ein Kamin?«, fragte Hannah, und als Janne bestätigte, fügte sie leise hinzu: »So einen haben wir zu Hause auch.« Sie sah traurig aus.
»Magst du Kaminfeuer?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, ich