Der siebenstufige Berg. Liselotte Welskopf-Henrich

Der siebenstufige Berg - Liselotte Welskopf-Henrich


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wegen irgendeines dieser typisch indianischen Verbrechen.

      Auf der Weiterfahrt ergab sich nichts Neues oder Besonderes mehr, und eine halbe Stunde vor Dienstschluss stand Carrs Wagen wieder vor der Superintendentur in der Agentursiedlung.

      Der Superintendent saß schon an seinem Schreibtisch und hatte seinen Stellvertreter Shaw rufen lassen.

      »In drei Tagen genauen Bericht über die Büffelranch des Joe King. Dort scheint mir nicht alles in Ordnung zu sein. Mangelhaft gehütete Büffel sind eine öffentliche Gefahr.«

      Shaw nickte.

      »Hat sich ein Cowboy Bob dieser Ranch strafbar gemacht?«

      »Wehrdienstverweigerung.«

      Carr fühlte einen leichten Schock.

      »Also den Bericht.«

      Shaw notierte und wiederholte: »Bericht.« Er verbarg dabei, wie erfreut er war, dass der neue Superintendent offenbar selbst die Widerstandsclique entdeckt hatte, die Nick Shaw schon lange, aber bisher vergeblich verfolgte.

      Es wurde vier Uhr nachmittags. Carr beendete den Dienst, fuhr hundert Meter weiter zu seiner Dienstwohnung im einstöckigen, gut eingerichteten Haus und wurde von seiner Frau begrüßt, die in allem dachte wie er selbst.

      Da es auf der Reservation keinerlei Klub, kein Restaurant, kein Theater, kein Kino gab, genoss Carr nach der Zeitungslektüre mit Frau Emily zusammen die Zerstreuung des Fernsehens. Als der Western langweilig wurde, überwand sich Frau Emily und erzählte: »Heute mittag sind zwei junge Verbrechertypen hier durchgefahren. Der eine war eine Mulatte. Clyde hatte die beiden als Anhalter mitgenommen.«

      Chester Carr schaltete den Fernsehapparat auf geringere Lautstärke, griff wieder nach der Zeitung, knisterte damit und fragte endlich: »Wer hat die drei entdeckt?«

      »Die beiden Indianerpolizisten.«

      »Auch das noch. Wieso?«

      »Clyde war aufgefallen. Er fragte die alten Männer aus, die an der Straße umhersaßen.«

      »Woher weißt du es?«

      »Ich kam mit Clarence vom Supermarkt.« Clarence war die Haushaltshilfe, eine Schwarze, die das Ehepaar Carr sich aus dem Süden mitgebracht hatte. »Und dann?«

      »Die drei wurden angewiesen, sich nicht aufzuhalten. Sie fuhren weiter.«

      Chester Carr schaltete den Fernseher auf volle Lautstärke, sah sich das von Revolverschüssen begleitete Happy End des Westerns und eine Komödie an und hüllte dabei seine Gedanken in ein Dämmerdunkel, wie es im ganzen Raume herrschte. Er hatte eine schriftliche Anweisung bei der Polizei hinterlegt, dass sein Sohn Clyde sofort aus der Reservation auszuweisen sei, wenn er gesehen werde. Die Polizisten hatten korrekt gehandelt. Aber Carr glaubte schon das Hohngerede unter den Indianern, boshaftes, bemitleidendes Geflüster seiner Beamten – außerhalb der Dienstzeit – zu vernehmen, und er spürte das Triumphgefühl Clydes, dem es schon wieder gelungen war, seinen Vater vor allen Leuten und an seiner Dienststelle lächerlich zu machen. In einem poppigen Auto mit zwei Verbrechertypen! Clyde war also nicht nur von blödsinnigen Schlagworten wie Rassismus und Kolonialismus besessen, er war durch seine Kritiklosigkeit gegenüber schlecht angezogenen und farbigen Leuten auch in üble Gesellschaft geraten. Es lag ihm offenbar nichts mehr daran, ob man ihn verhaftete. Vielleicht provozierte er bewusst, und Chester Carr war machtlos gegenüber einem mündigen Sohn, der wenig Bedürfnisse zeigte, kein Geld verlangte und das Gefängnis noch nicht zu fürchten gelernt hatte.

      Gegen elf Uhr nachts folgte Chester dem fragenden Blick seiner Frau, erhob sich und ließ das Fernsehlicht erlöschen. Wie einfach. Vielleicht wurde im Jahre 3000 ein Schaltknopf für das Gehirnzentrum des Menschen erfunden, um Gedanken in Gang zu setzen und sie ebenso schnell abzudrehen. Für die lebende Generation blieb nichts übrig, als sich zu Bett zu begeben und die Beruhigungspille einzunehmen, für die Frau Emily schon einen Schluck Wasser bereitgestellt hatte.

      Das Haus lag im Dunkel. Chester schlief ein, ohne noch etwas gesagt zu haben, aber er wusste, dass Emily mit den gleichen Sorgen umging wie er selbst.

      Als es Morgen wurde, als der Wecker rasselte, als ein paar Vögel durch den wohlgepflegten Garten des Superintendentenhauses huschten und Mr und Mrs Carr sich wie gewohnt ham and eggs servieren ließen, hatte Chester beschlossen, nirgendwo auf die Sache Clyde zurückzukommen, weder in der Familie noch im Büro.

      Er verabschiedete sich höflich von seiner von ihm noch immer verehrten Frau. Larry hatte den Wagen bereit und fuhr den Chef die Strecke von hundert Metern zur Superintendentur.

      Carr wandte sich den laufenden Amtsgeschäften zu und empfing Miss Bilkins, die für das Schulwesen verantwortlich zeichnete. Sie war blond und hellhäutig, im Norden geboren, wie Carr ihren Personalakten bereits entnommen hatte. Das letzte ihrer Schriftstücke, das Miss Bilkins vorlegte, war ein Antrag, den jungen Indianer Hugh Mahan, der soeben das College abgeschlossen hatte, bei der Superintendentur zu beschäftigen. Zeugnisse, Lebenslauf, Passbild, eine ausführliche Beurteilung waren beigefügt. Carr ließ den Blick über die Papiere laufen, schichtete sie wieder zusammen und legte sie nochmals auseinander. Er gestand sich selbst nicht ein, dass ihn das ausgezeichnete Abschlusszeugnis dieses Farbigen stutzen ließ und verärgerte. Mahan hatte am College besser abgeschnitten als einst Chester Carr. Carr war entschlossen, den Antrag auf Mahans Einstellung in sein Büro abzulehnen. Intellektuelle waren eine Krankheit des Landes, farbige Intellektuelle die Pest schlechthin.

      Der neue Superintendent lehnte sich in seinem Dienststuhl mit Armlehnen zurück und kritisierte: »Miss Bilkins! Sie haben diesen jungen Mann vor drei Jahren zum Besuch des College mit entsprechendem Stipendium vorgeschlagen. Warum?«

      »Ein ausgezeichnetes Abitur, Mr Carr. Mahan war der Beste der ganzen Abschlussklasse, und Superintendent Sir Hawley hat den Antrag warm befürwortet.«

      »Das sind vergangene Zeiten, Miss Bilkins. Ich muss nach dem heutigen Stand unserer Erfahrungen urteilen. Wieso hat Mahan sein ›ausgezeichnetes Abitur‹ erst mit zwanzig Jahren abgelegt?«

      »Er wurde von den Eltern zwei Jahre zu spät zur Schule geschickt.«

      »Eine widersetzliche Traditionalistenfamilie, dazu eine Nachlässigkeit der Verwaltung. Er kam dann in das Internat?«

      »Außerhalb der Reservation. Drei Jahre keine Erlaubnis des Elternbesuchs, dann war der Vater verstorben, und die Mutter kam nicht. Sie ist unbeholfen. Hugh Mahan ist ganz und gar unser Zögling geworden.«

      »Erst mit zweiundzwanzig Jahren hat er das Studium begonnen. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen?« Carr blätterte.

      »Er hat in Chicago am Indian Center als Sekretär gearbeitet. Das Zeugnis liegt bei.«

      »Das Zeugnis ist zu gut, Miss Bilkins. Das Center in Chicago arbeitet nicht in unserem Sinne. Die militanten United Natives haben dort getagt.«

      »Sie wissen natürlich mehr als ich, Mr Carr.«

      »Das ist meine Aufgabe. Seine Collegezeit hat dieser Hugh Mahan mit vorzüglichen Leistungen beendet, nachdem er mit sehr schlechten angefangen hatte. Derselbe Vorgang wie in der Schule. Elf Jahre ein schlechter Schüler, dann das gute Abitur. Sie werden auch nicht glauben, Miss Bilkins, dass ein Schüler elf Jahre lang faul sein und dann im zwölften ein ausgezeichnetes Abitur machen kann. Er hat schon als Junge im Verborgenen gelernt. Er ist ehrgeizig und heimtückisch.«

      »Mr Carr – Mahan erscheint eher gehemmt. Er ist ein Spätentwickler.«

      »Hm. Vielleicht würde er in unserem Büro neun Jahre lang nichts leisten, um uns im zehnten – wer weiß womit! – zu überraschen. Nein, Miss Bilkins, das ist nicht der Typ, den wir für die Superintendentur brauchen.«

      Miss Bilkins schwieg beschämt.

      Carr war befriedigt.

      »Sie sehen ein, dass ich recht habe. Lesen Sie die Papiere dieses Mahan noch einmal genau durch und schreiben Sie eine andere Beurteilung – ich gebe Ihnen die vorliegende zurück, bitte.«

      Miss


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