Die Kunst und Philosophie der Osteopathie. Robert Lever

Die Kunst und Philosophie der Osteopathie - Robert Lever


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zu einem ‚Produkt’, das auf gewisse Art einmalig ist. Unsere Aufgabe als Lehrer sollte bis zu einem gewissen Grad darauf ausgerichtet sein, den Studenten dabei zu helfen diese Kunst zu ihrer eigenen werden zu lassen.

      Gute Lehre legt den Samen für diese Fertigkeiten. Ihr Keimen unterstützt nicht nur das Wachstum der speziellen Fähigkeiten eines jeden einzelnen Studenten. Diese Fähigkeiten vor die Prinzipien von Diagnose und Behandlung gespannt, die über viele Jahre erprobt und getestet wurden, statten den Studenten mit einem Entwicklungspotential als Kliniker aus, welches die Arbeit immer frisch, lebendig und offen für neue Perspektiven hält. Denn am Ende gibt es keine streng definierten Behandlungen. Wir statten den Studenten lediglich mit Prinzipien und Methoden aus und ermutigen jeden einzelnen anschließend dazu, den Rest durch einen Prozess der Hingabe zu gestalten.

      In jenen seltsamen Momenten, in denen Patienten beeindruckt waren von den Prozessen während einer Behandlung, haben sie gefragt: Wie hast du gelernt, wie man so etwas macht? Wie unterrichtest du das? Das erinnert mich immer an meine Einführungsrede zu jeder neuen Horde an Studenten. Sehr zu ihrem Leidwesen hören sie von mir: Ich kann euch nicht beibringen, wie man Osteopathie macht – schade, denn das ist es in der Regel, warum sie gekommen sind –, aber ich werde versuchen, so viele Samen an Gedanken und Orientierung wie möglich zu legen, damit die Fähigkeiten, Einstellungen und Denkansätze anfangen sich in euch zu entwickeln, so dass ihr beginnen könnt diese Kunst zu eurer eigenen zu machen, aufgepfropft auf angewendete wissenschaftliche Fundamente und Techniken der osteopathischen Medizin. Die Reiferen und Geduldigen können dies eher akzeptieren; andere kochen vor Frustration.

      Die kurze und irgendwie vereinfachte Antwort für den Patienten kann zusammengefasst auf ein Minimum lauten:

       Wir unterrichten den Studenten bezüglich der Struktur (Anatomie).

       Wir unterrichten den Studenten bezüglich der Funktion (Physiologie).

       Wir unterrichten, wie diese beiden in Zusammenhang stehen.

       Wir unterrichten die anomalen Funktionen der einzelnen Anteile.

       Wir lehren ihnen die anomale Funktion (Pathologie).

       Wir lehren ihnen die anomale Funktion der Anteile zu erkennen, Beziehungen und Fehlbeziehungen.

       Wir zeigen ihnen die Bedeutung dessen im klinischen Bild oder dessen Ausdruck – aus osteopathischer Sicht.

       Wir unterrichten Methoden zur Anpassung; Techniken, Behandlungsmethoden und Ansätze.

       Wir lehren ihnen, wann etwas zu beheben/​korrigieren ist, z. B. Strategie.

       Und (traditioneller- und idealerweise) tauchen wir alles in eine beständige und empathische Grundlage aus osteopathischen Prinzipien und klinischer Medizin.

       Sobald es jedoch zur Anwendung dieser Grundideen kommt, begegnet man zahlreichen Ausrichtungen bzw. Anschauungen, deren Lehre einer großen Variationsbreite unterliegt. Die Verfeinerung dieser notwendigen Fähigkeiten beinhaltet einen sonderbaren Prozess, der wohl typisch für einige holistische Disziplinen ist, und grob gesagt durch ‚Fragen, die wir dem Körper stellen‘, charakterisiert werden kann. In unserem Fall bedienen wir uns dabei der informellen Palpation und Observation. Die Informationsstränge, die wir suchen, greifen ineinander und werden in der weiter unten folgenden Liste über Struktur-Funktion-Verbindungen ausführlich dargelegt. Wie auch immer, wir entwickeln unsere Fähigkeiten auf einem quasi-organischen Weg:

      Wir entwickeln zunehmend die Fähigkeit zum Beobachten der Informationsstränge, wobei zugleich unser Verständnis bezüglich der Interaktionen bzw. des Informationsaustauschs zunimmt. So wächst unsere Gewandtheit, einen Blick dafür zu bekommen, welche Rolle die Antwort auf eine ‚Frage’ im Kontext zu allen anderen Fragen spielt. Diese Antworten stehen selbst wieder in Beziehung zu den klinischen, persönlichen und Lebensproblemen des Patienten. Sie spiegeln sich im Körper und sein Gewebe reagiert darauf. Und eben dies interpretieren wir, um eine Art diagnostisches Muster zu erstellen. Dieses Muster wird durch die Implementierung eines Modells gebildet, welches für uns auf Struktur basiert und zugleich die bereits erwähnten Struktur-Funktion-Verbindungen beinhaltet.

      Der Grund, warum die Studenten bei diesem Lernprozess immer besser werden, liegt darin, dass sie empfänglicher für die informativen Stränge innerhalb der präsentierten Fälle werden und sie die potentiellen Querverbindungen mit größerer Schnelligkeit und interpretativer Fähigkeit erkennen können. Und dadurch verbessert sich auch das Palpationsvermögen. Man erwirbt die Fähigkeit einen Aspekt zu begleiten und zugleich für viele andere offen zu bleiben und ihre Relevanzen zueinander besser zu erfassen. Jede palpierte Struktur hat eine funktionelle Relevanz oder Bedeutung, insbesondere in Bezug auf ihren strukturellen und funktionellen Kontext. Auf diese Weise eröffnet die Palpation uns ein weites Feld.

      Wird demnach eine Struktur palpiert, ist es notwendig ihre Bedeutung zu verstehen, sowohl anatomisch als auch physiologisch und reziprok, mit all ihrem Potential für nahezu grenzenlose Interaktionen mit dem Rest des Körpers, und dies alles gleichzeitig. Man beurteilt eine Struktur durch das Abwägen ihrer Bedeutung für das Ganze und ihre Rolle. Anders ausgedrückt, das Palpieren einer Struktur dient dazu, über seine funktionelle Signifikanz in Beziehung zu anderen Strukturen informiert zu werden, so wie auch über neurophysiologische und zirkulatorische Dynamiken, den emotionalen und energetischen Ausdruck (vielleicht), und über ihren feinsten Informationsaustausch innerhalb des gesamten Körpers, wie er durch die Bindegewebsmatrix vermittelt wird. So betrachtet, kann man sagen, dass die Diagnose um die 90 Prozent der gesamten Aufgabe ausmacht.

       Ausrichtungen

      Zurück zu den Ausrichtungen und Perspektiven. Da meine Erfahrungen und mein Fokus zum größten Teil auf der Osteopathie in England basieren, liegt somit auch hier mein Schwerpunkt. Osteopathie ist in England, wie überall sonst auch, geprägt durch entsprechende Schulen, Lehrer und den gelegentlichen Guru, dessen Anhänger manchmal ihre ausgewählten Methoden mit einer nahezu religiösen Inbrunst vermitteln. Der Anspruch auf die einzige wirkliche osteopathische Wahrheit führt dann häufig zu Spaltungsprozessen unter den Osteopathen. Es brauchte Jahre, bis die Berufsgruppe in diesem Land wieder ein gewisses Maß an Einheit fand und anfing mit einer Stimme zu reden, zumindest annähernd. Dies geschah aus politischen Gründen, was richtig ist, denn sie kämpften über viele Jahre gegen mangelnde Anerkennung und politische wie auch berufliche Ächtung, zum Teil auch deshalb, weil es ihnen nicht gelang sich auf irgendeine Weise allein gedanklich zu einigen. Vielfalt kann natürlich auch Reichtum und Tiefe hervorbringen. Wo Unterschiede gefeiert werden, bereichern sie den Spielraum für Wachstum und ein größeres Verständnis. Die Unterscheidungen indessen, die häufig zwischen den diversen Ansätzen gemacht werden, beziehen sich mehr auf die grundlegenden Unterschiede in der Ausrichtung und Anwendung als auf die Prinzipien selbst. Ich bin der Ansicht, dass jede andere Meinung hierzu auf einer Fehlinterpretation beruht. Die Erforschung gerade der Überschneidungen erweist sich in diesem Zusammenhang als äußerst fruchtbar und steckt voller Offenbarungen; im Reich gegenseitiger Ausschlüsse dahinzudümpeln bedeutet das Gegenteil. Die Geschichte der Osteopathie kennt bereits viele Spaltungen, aber so unterschiedlich die Ausrichtungen und Ansätze in der Osteopathie (mit ihren entsprechenden Betonungen auf Struktur, Fluids und Energie, absichtlichen versus absichtslosen Mechanismen etc.) auch sein mögen, so stehen sie aufgrund der Einhaltung gewisser Basisprinzipien alle in Resonanz zueinander. Sie zielen nicht nur darauf ab an den gleichen Ort zu gelangen (zum Nutzen des Patienten etc.), im besten Falle stammen sie sogar alle vom gleichen Ort ab: jenem konzeptionellen Gerüst, das die Osteopathie von Beginn an trug und welches sich an den Wurzeln all dieser Ansätze befindet – solange sie korrekt interpretiert werden.

       Schulen

      Wie bereits gesagt, handelte es sich bei der Osteopathie um einen amerikanischen Import. Sie schlug in England Wurzeln dank John Martin Littlejohns31 und mit der Gründung der British School of Osteopathy im Jahr 1915 (die Beurkundung erfolgte 1917). Auch wenn die Osteopathie bereits vor Littlejohns Rückkehr aus den USA 1913 in England auftauchte, zum größte Teil durch einige frühe Graduierte der ersten amerikanischen Schulen und die Gründung der BOA 1911, so war es doch Littlejohns Beitrag zur Osteopathie


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