Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise. Hans-Joachim Bittner

Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise - Hans-Joachim Bittner


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Lage geraten, die sein Leben massiv bedrohte. So kurz nach seinem Absturz am Vulkan. Sie kamen wieder raus, aber Stefan weiß: „Wir wären heute noch drin, in den Sümpfen, hätten uns die Indios nicht wieder rausgeführt, zum rettenden Hauptfluss.“

      Mit ihrem Einbaum kamen sie direkt zu einem Waisenhaus: „Hier hätte ich gern gejobbt.“ Es wurde nichts draus. Obwohl er es gut kann, mit Kindern. Touristen kommen hier nur sehr selten vorbei. Und wenn, erhalten sie keinen Einblick. Die Kinder sollen ihre Privatsphäre behalten. Sehr viel später war Stefan nochmal dort, mit seiner Irmi. Wieder kam er super bei den Kindern an. Doch er konnte nicht bleiben, wie schon 1992. Daheim wartete eine andere Arbeit, zumindest auch eine soziale.

      Damals ging auch sein Geld langsam zu Ende. Ein Job hätte für weiteres Reisekapital gesorgt. Mit dem Schorsch ging es noch ein wenig durchs korrupte Land mit Orten im Hochsicherheitslook, streng bewacht. Militär allerorten. Die Reichen bewegten sich außerhalb ihrer Wohnungen lediglich mit gepanzerten Autos, und „wir fuhren dort mit dem Fahrrad rum und dachten uns nichts dabei“. Aus heutiger Sicht ein Himmelfahrtskommando. Sie sind einfach weitergereist. Rein nach Honduras.

       Der Sohn von Hitler?

      In einem anderen Dorf am Lago de Atitlán, in San Pedro La Laguna, verkrümelte sich Stefan, als er allein unterwegs war. Er wollte einer wilden Schießerei entfliehen. Unbedarft radelte er ins Dorf, fast wie in Trance. Plötzlich der Weckruf. In einem Gefängnis brach eine Rebellion aus. Es gab mehrere Tote, noch mehr Verletzte – wie meist in solch sinnlosen Auseinandersetzungen gerade unter völlig unbeteiligten Bürgern. Irgendwann wusste keiner mehr, wer hier eigentlich gegen wen kämpfte. Das Militär machte Hatz auf die Guerilla, die Guerilla auf die Einheimischen, die Einheimischen schoben alles aufs Militär. Alle wollten das Sagen haben, niemand hatte wirklich etwas zu sagen, es war ein wildes Durcheinander. Bürgerkriegsnah bereits. Und er, der Wiebei aus Bad Reichenhall, mittendrin.

      Von Touristen hatte er von solch unfassbaren Geschichten gehört und fragte sich, wie er wohl reagieren würde, käme er in die brenzlige Lage eines Überfalls. Sein gutes Spanisch beruhigte Stefan: „Ich wollte damit imponieren.“ Eigentlich war er hier, um Land und Leute kennenzulernen. Diese Intensität konnte er nicht erwarten und war ihm zu viel. Später, auf einer Bergstraße, begegneten ihm Zahnlücken-Jungs auf einem rostigen Pick-up, vier Reifen ohne Profil, wie seine Insassen. Fünf Zwielichtige mit Mundgeruch. Sie betrachteten es als Gag, den deutschen Gringo zu ärgern und ihre Pistolen zu präsentieren, zielten aber nicht auf ihn. Sie „empfingen“ ihn, in einer Parkbucht, er hatte keine Chance, um auszuweichen. „Ich musste an ihnen vorbei. Hätte ich umgedreht, wären sie mir so oder so gefolgt.“ Er wusste sofort: „Brotzeit werden die nicht mit mir machen wollen.“ Sie fuchtelten mit ihren Knarren herum und zeigten ihm einen Vogel, weil er es „wagte“ bergauf zu radeln. Sie verstanden nicht, dass jemand „so etwas Verrücktes“ tut. „Wo fährst du hin?“, löcherten sie ihn. „Wo kommst du her?“ Deutschland? Ost oder West? Und: „Bist du der Sohn von Hitler?“ Die Wende war zwei Jahre her. Stefan konnte so wenig Bildung auf so „viel“ Hirn nicht fassen.

      Griffbereit verweilten – für exakt solche Situationen – ein paar Scheine, Cash, Bares, in seiner Hosentasche. Sie sprachen Slang mit ihm, absichtlich, damit er sie nicht verstehen konnte. Denn Spanisch konnte er mittlerweile, sehr gut sogar. Und wieder war das Hauptaugenmerk auf die Schuhe gerichtet. Hinten am Gepäckträger hatte Stefan richtig feine Camel Boots dabei. Schuhe bedeuten in Lateinamerika puren Reichtum. Natürlich nahmen sie ihm diese, plus seine Kamera. Die Rollei war denen wichtiger als das Fahrrad – letztlich war’s Stefan so herum lieber. Ab jetzt gab es allerdings keine Fotos mehr … – weil er keinen vernünftigen Apparat mehr in den schlecht ausgerüsteten Läden fand. Die Gehäuse dort wirkten, als sei da gar nichts drin, als wären es Attrappen. Wochenlang drückte er schweren Herzens keinen Auslöser. „Das tat so weh, bei all den faszinierenden Landschaften.“ Barfuß machte er sich nach dem Überfallsschreck auf den Weg, radelte schuhlos mit seinen gezackten Pedalen in den nächsten Ort, besorgte sich erst mal ganz einfache Flip-Flops. Vernünftige Schuhe zum Radeln und Bergsteigen fand er erst Tage später.

      Sein Spezl Georg erlebte ähnliches: In Mexiko-City, vorm Flughafen, hielt der Schorsch Ausschau nach einem Busbahnhof. Er wollte gleich weiter, nach Guatemala, vermutete dort seinen Freund. Da stand ein Auto, daneben zwei junge Burschen. Sie machten einen gelangweilten Eindruck, sie „chillten“ wohl. Plötzlich hatte der ratlose Deutsche einen Revolver am Kopf. Mit erhobenen Händen musste er losgehen … – bis er merkte, dass sich die beiden einen höchst üblen Scherz erlaubt hatten. Als er nichts mehr hörte, drehte er sich vorsichtig um und sah die Frechen nicht mehr. So schnell wie möglich löste der Schorsch ein Ticket, bestieg einen Bus und verschwand aus dem Moloch Mexiko-City Richtung Quetzaltenango (für die Einheimischen Xelajú, kurz Xela, gesprochen „Schela“): Umgeben von hohen Vulkanen, ein belebter, farbenfroher Ort voller Indios, im Südwesten Guatemalas nahe der berühmten Panamericana, zirka 140.000 Einwohner.

      Jetzt war Georgs Urlaub vorbei. Er musste heimfliegen. Stefan wollte ein Jahr wegbleiben, darauf war die Reise ausgelegt. Acht Monate lagen hinter ihm. Zeit war also noch übrig, reichlich, aber das Ende seiner finanziellen Mittel nahezu erreicht. Nach rund 4.000 Kilometer radeln zwischen Mexiko und Costa Rica und Erlebnissen, die für zwei Leben reichten, war kaum noch Geld übrig. Er deponierte sein Rad in einem Hotel am Pazifik, denn er wusste, dass er wiederkommen würde. Er holte es später tatsächlich ab, bei einer erneuten Lateinamerika-Reise.

      Stefan jettete zurück nach Mexiko, um seinen Rückflug nach Deutschland umzubuchen. One-Way-Tickets gab es damals nicht. Die Flüge waren unglaublich teuer, 2.200 D-Mark. Alles sollte jetzt locker auf ihn zukommen, das wollte er. Er kam zurück zu Nadia und ihrer Familie, die ihn so herzlich aufgenommen, so sanft (gesund)-gepflegt hatte. Und wo noch eine Herzsache auf ihn wartete. Sie war noch immer schwanger, na klar. Mehr denn je. Ihr Streifenhörnchen hatte Familie und Kinder, die natürlich nichts von ihrem „außertourlich beschäftigten“ Ehemann und Papa wussten. Genauso wenig wie Nadias Mutter samt Schwestern und Bruder, dem Aufpasser, dem Beschützer. Der Polizist ließ Nadia im Stich, ließ sie links liegen. Sie saß in ihrem Dorf, mit 17, knapp 18 – und hatte keine Chance. Andere Männer interessierten sich nicht für sie, nicht in „diesem Zustand“, nicht „derart befleckt“.

      Stefan erzählte ihnen alles. In gutem Spanisch. All seine Erlebnisse. Nach drei, vier Tagen war es perfekt, sein Castellano. „Da lernte ich mehr als zuvor in einem Monat. Sie wollten alles wissen.“ Und er musste zusehen zurückzukommen. Die Zeit drängte. „Ich musste abchecken, was in Deutschland los ist, mit der Familie, wie es für mich weiterging, beruflich.“ In Nadias Familie war er längst integriert, ihre Mutter hatte Stefan in ihr Herz geschlossen. Sie zog vier Kinder groß, allein. Mit ihrer kleinen Hühnerbraterei brachte sie alle durch. Harte, schweißtreibende Maloche auf offener Straße, ein Pizzaofen, den die älteste Tochter betrieb, ein kleines Lokal dabei. Als Stefan ein paar Monate zuvor dort ankam, sah er drei hübsche Mädels und einen skeptisch dreinblickenden Bruder, der in der Küche schuftete und ihn gleich mal prüfte: Wo er überhaupt herkomme, was er überhaupt hier wolle. Stefan hatte Hunger, großen Appetit. Das gefiel dem mexikanischen Quartett: Der Mutter, dem Bruder, der einen Schwester und auch der anderen, dem Küken, dem Püppi, die mit ihrem Plingpling-Augenaufschlag irgendwie für nichts zuständig war und nichts tat. Ein „Wienerwald“ mit Sombrero. Das gefiel dem Gringo aus Bayern.

      Sie luden „ihren Esteban“ (= spanisch für Stefan) ein. Nach Acapulco, touristisches Mexiko-Highlight. „Ich wollte da nicht hin. 30 Stunden Fahrt, nur um Hotels und Strand zu sehen und Ausflüge zu machen, dorthin wohin die Mexikaner am liebsten reisen. Das war nicht mein Ding. Außerdem konnte ich mir das gar nicht leisten.“ Doch er musste sich gar nichts leisten, er musste mit, ohne Diskussion. Nadias Bruder gab keine Ruhe, er hatte Stefan wohl schon als seinen neuen Schwager auserkoren. Es kostete ihn keinen Peso, sie bezahlten alles. Der Mutter war es egal, ob sie für fünf oder sechs „Kinder“ aufkam. Und es wurde enger, mit Nadia. Sie erzählte Stefan so viel, er gefiel ihr, sie gefiel ihm. Und der Polizist, der Vater, wusste nun auch von der Schwangerschaft.

      Stefan hatte nichts zu beichten. Aber er brachte Nadias Familie bei, was los war. Ausgerechnet er, der Gringo, vom Leben noch keine Ahnung.


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