Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof. Horst Bosetzky

Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof - Horst Bosetzky


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zusammenzubrechen.

      Fritz musste sie stützen. »Was ist denn mit dir?«

      »Wie bei mir«, stammelte sie. »Nein, aber … So wie die da wäre ich auch gerne … Mein Ludwig ist in Frankreich gefallen … Und keiner hat neben ihm gekniet, als er gestorben ist.« Ihr ganzes Elend war ihr wieder bewusst geworden. Schlagartig. Wegen Hauptmann Ludwig von Lellichow hatte sie ihren Bräutigam in Breslau verlassen und war schließlich in Berlin gestrandet.

      Wieder floh Grete Tschau, und irgendwie verlor sie Fritz im Gedränge auf dem Hermannplatz. Egal. Abhaken. Das fortsetzen, was sie gestern begonnen hatte: Valeska finden und sehen, ob die mit ihren vielen Beziehungen jemanden kannte, der ihr weiterhalf.

      Diesmal schaffte sie es bis zur Brückenstraße und hatte doppelt Glück, denn Valeska war zu Hause – und allein. Was erstaunlich war, denn fragte man sie nach ihrem Beruf, so antwortete sie ohne Scham und Umschweife: »Ich verdiene mir mein Geld mit meiner Pflaume.« Eigentlich war sie nach Berlin gekommen, um Tänzerin in einer der großen Revuen zu werden. Dunkelhaarig, langbeinig und rassig, wie sie war.

      »Das ist doch alles schrecklich«, stöhnte Valeska. »Wo gibt es heute noch Männer mit Niveau? Alle ausgestorben. Gefallen, erschossen. Und richtig Geld hat auch keiner mehr.«

      Grete fragte sie, ob sie nicht einen vom Film oder vom Theater kennen würde. »Ich brauch’ dringend ’ne Rolle.« Valeska musste nicht lange überlegen. »Der Collini sucht gerade seine Schauspieler für Woltersdorf zusammen. Ich werd’ auch dabei sein.« Sie begann, von Woltersdorf zu schwärmen. Dort, vor den Toren Berlins, am Kalksee, hatte sie vor einem Jahr durch Collinis Fürsprache bei Joe May eine kleine Rolle in seinem ersten großen Kinoschinken bekommen, in Die Herrin der Welt. »Nächstes Jahr will er wieder was drehen: Das indische Grabmal – Teil 1: Die Sendung des Yogi, Teil 2: Der Tiger von Eschnapur. Und wieder mit dabei: die große Mia May.«

      Grete lachte und zitierte das, was langsam alle kannten: »Harry Piel sitzt am Nil, / wäscht sich seine Stange mit Persil. / Mia May sitzt dabei, / schaukelt ihm das rechte Ei.«

      Valeska steckte sich eine Zigarette an. »Collini soll im Adlon residieren. Kann man’s denn schon riskieren, zum Brandenburger Tor zu laufen?«

      »Was, du kannst dir keine Droschke leisten?«

      »Du kriegst keine, weder für Geld noch für gute Worte.«

      »Die Baltikumtruppen marschieren ab, sagen die Leute. Und wenn wir noch ’n bisschen warten, dann … Ich bin ja auch lebendig hergekommen.« Gretes ganze Hoffnung ruhte auf diesem Carl Collini, wie er sich nannte. Wahrscheinlich hieß er Karl-Egon Kolloschinski – oder so.

      »Na schön.« Valeska briet ihnen Kartoffelpuffer. »Die mochte doch dein Bräutigam immer besonders gern. Was macht der eigentlich jetzt?«

      »Friedrich? Keine Ahnung. Nach’m Krieg ist er nach Breslau zurück. Bei der Zeitung soll er sein und außerdem studieren. Was, weiß ich nicht. Ist mir auch egal.«

      »Komm, er kann doch nichts dafür, dass du dich mit deinen Eltern so verkracht hast und mit dem Lellichow durchgebrannt bist.«

      »Nein, aber er hätte sich zu mir bekennen müssen. Als ich noch gar nichts mit Ludwig hatte, sondern nur mal tanzen mit ihm war. Aber was hat er getan: mich fallen lassen. Erst dann bin ich ja mit Lellichow auf und davon.« Grete Tschau presste die Hand auf den Magen, in dem es plötzlich rumorte.

      »Komm, ich will nichts mehr davon hören!«

      Am späten Nachmittag machten sie sich dann auf den Weg zum Adlon. Über die Wallstraße und den Spittelmarkt kamen sie zur Leipziger Straße. In langen Kolonnen sahen sie Kanonen stehen, hochbepackte Proviantwagen, bespannt und zum Abmarsch bereit. Auch die Truppen waren marschfertig. Offiziere, den Sturmhelm auf dem Kopf und Pistolen im Gürtel, gingen die Reihen entlang. Die letzten Fahnen der Putschherrschaft wurden eingezogen. »Wir ziehen jetzt nach Lichterfelde!«, hörten sie einen jungen Offizier. »Wenn ihr unterwegs angepöbelt werdet, dann rücksichtslos …«

      Die beiden jungen Frauen beeilten sich, ins Adlon zu kommen. An der Rezeption fragten sie nach Collini. Der sei nicht auf seinem Zimmer. Ob er eine Nachricht hinterlassen habe, wo er zu finden sei? Man möge sich einen Augenblick gedulden. Sie setzten sich ins Foyer, und Grete fragte sich, ob sie jemals in ihrem Leben das Geld haben würde, sich hier ein Zimmer zu nehmen. Als Gnädige Frau. Warum denn nicht! Welch unendlich langer Weg aber war es bis hin zu diesem Ziel. Aber das war es ja, warum sie aus Breslau abgehauen war. Ihr Elternhaus war für sie ein schreckliches Gefängnis und ihr Vater ein widerlicher Sklavenhalter gewesen.

      Schüsse rissen die beiden Frauen aus ihren Gedanken. Das war scharfes Feuer. Der Türsteher rief ins Foyer, dass die Menge das Brandenburger Tor völlig versperrt und die anrückenden Truppen angegriffen habe. »Erst ’n paar Schreckschüsse und dann immer rin in die Leute.« Schon wurden die ersten Opfer ins Hotel getragen, Tote und Verletzte. Grete und ihre Freundin flüchteten sich in die hinteren Räume. Dort hielten sie sich eine knappe Stunde verborgen und erfuhren dann, dass Collini in der Madaistraße am Schlesischen Bahnhof drehen würde. Sie sollten sich auf den Weg machen. Bitte durch einen Hinterausgang. Das taten sie dann auch und hatten das Glück, von einem Lastwagen bis zur Schillingbrücke mitgenommen zu werden. Jetzt bräuchten sie nur noch um die Andreaskirche herum, in die Koppenstraße rein und unter den Gleisen der Stadtbahn hindurch – ihre Spannung wuchs.

      »Vielleicht lässt er mich gleich mitspielen, wenn du mit ihm redest«, hoffte Grete.

      »Der macht noch ganz was anderes, wenn ich ihn darum bitte.« Valeska fand, dass er ihr geradezu hörig wäre.

      Doch als sie in die Madaistraße einbogen, erschraken sie.

      »Keine Scheinwerfer, kein Collini. Da muss doch einer gesponnen haben.«

      »Vielleicht dreht er im Bahnhof drin.«

      Sie gingen hinein, doch so verzweifelt sie auch suchten, sie konnten den Produzenten nirgends finden.

      »Das ist ja vielleicht ’ne Enttäuschung«, sagte Valeska. Grete Tschau hatte Tränen in den Augen. »Was nun?«

      »Essen wir erst mal was.«

      Neben dem Eingang zum Bahnhof fanden sie einen Wurstverkäufer. Karl Großmann stand auf einem Pappschild. Valeska stieß Grete an. »Mann, ist der hässlich!«

      Grete sagte das, was ihre Mutter immer gesagt hatte: »Aber dafür hat er bestimmt einen guten Charakter.«

      »Mir reicht schon, wenn seine Langen Wiener gut sind.« Valeska orderte zwei Paar Würstchen mit Weißbrot und Senf und nutzte die Gelegenheit, nach Collini und seinen Filmleuten zu fragen.

      »Da kann ick nicht mit dienen, meine Damen«, sagte der Wurstmaxe, während er mit einer hölzernen Zange die Würstchen aus seinem dampfenden Kessel fischte. »Det hätte mir garantiert müssen uffallen, wenn er hier wäre jewesen.«

      »Schade«, sagte Valeska. »Meine Freundin hier hätte gerne ’ne kleine Rolle gehabt.«

      »Die kann sogar ’ne jroße Rolle ham.«

      »Wie? Wo?«

      »Na, bei mir. Ick suche jerade ’ne neue Wirtschafterin, die mir meinen Haushalt führen tut. Die alte ist weg, zurück zu Hause bei ihr. Leichte Arbeit, juter Lohn.« Er zog seine Brieftasche unter der weißen Schürze hervor und ließ ein Bündel gutsortierter Geldscheine sehen.

      Richard Jerxheimer saß in seinem Laden in der Kreuzberger Adalbertstraße, wartete auf Kundschaft und kam sich albern vor. Wer kaufte sich in diesen lausigen Zeiten schon was Neues zum Anziehen! Hoffen und Harren macht manchen zum Narren. Recht hatten die Leute. Nu, hatte er Zeit zu lesen. Im Regal stapelten sich die Ausgaben des Berliner Tageblattes. Am 13. März war es losgegangen. »Natürlich am 13.«, murmelte Jerxheimer. Aber schon am Tag davor, in der Ausgabe vom Freitag, dem 12. März 1920, hatte es entsprechende


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