Wenn alle Stricke reißen. Beate Vera
Leas Schottischer Hirschhund, furchteinflößend ob seiner Größe, kam ins Schlafzimmer getrottet und sah sie aus seinen dunklen Knopfaugen an. Lea rutschte vorsichtig aus dem großen Doppelbett und nahm leise ihre Laufsachen aus dem Kleiderschrank. »Come on then«, flüsterte sie dem Hund zu und gab ihm mit der Hand das Signal zu folgen.
Lea ging für wenige Minuten ins Bad, dann schnappte sie sich unten im Flur den kleinen Laufrucksack mit Tüten und Schaufel für Taliskers Hinterlassenschaften. Den Bund mit den Schlüsseln für das Gartentor und die Terrassentür steckte sie in das Seitenfach. Sie schrieb einen Zettel für Martin, brachte ihn am Badspiegel an und ging hinaus in den Garten. Es war windig und sah nach Regen aus, doch als halbe Schottin väterlicherseits ließ sich Lea davon nicht abschrecken. In dem Haus in Stirling, in das sie nach dem Tod ihrer Eltern mit ihrer Tante Patty gezogen war, hatte es stets durch die Fenster gezogen, und auch ein warmes Badezimmer gehörte nicht zu Leas Erinnerungen an ihre Jugend in Schottland.
Leas Grundstück im kleinen Eifelviertel am südlichen Berliner Stadtrand grenzte an den BUGA-Wanderweg, der auf dem ehemaligen Grenzstreifen verlief und den Stadtteil Lichterfelde Süd mit Potsdam verband. Anlässlich des Falls der Berliner Mauer waren in einer beispiellosen japanischen Spendenaktion über eintausend Kirschbäume gestiftet worden, die nun auf dem Wanderweg eine in Deutschland einmalige Allee formten. Sonnabends konnte man um acht Uhr morgens im nach den Spendern benannten Japan-Eck und entlang der dort ihren Anfang nehmenden Kirschblütenallee in der Regel bereits regem Treiben zuschauen: Hunde wurden ausgeführt, Eltern schoben Kinderwagen, vor dem Supermarkt an der Lichterfelder Allee trafen sich Trauben älterer Damen zu ihren Nordic-Walking-Runden, und erste Jogger liefen ihre Strecken, bevor sie ihre Wochenendeinkäufe erledigten. Jetzt, um kurz nach sechs Uhr früh, lag der Weg in einer Ruhe vor Lea, die in Berlin sonst nur auf Friedhöfen herrschte. Rein geographisch betrachtet, gehörte der Weg schon zu Brandenburg. Lea zog das Gartentor hinter sich zu und machte sich mit dem großen Jagdhund an ihrer Seite auf den Weg.
Acht Wochen war es her, dass Lea Martin Glander mitten in der Nacht auf dem Mauerweg kennengelernt hatte. Sie hatte dort einen Nachbarn und eine Prostituierte ermordet aufgefunden, und Martin war als Kriminalhauptkommissar des LKA Brandenburg am Fundort gewesen. Kopfschüttelnd rekapitulierte Lea die Ereignisse vom Juli. Das Berliner LKA 1 hatte den Fall übernommen. Da Glander nicht viel von dem Leiter der Ermittlungen, Kriminalhauptkommissar Prinz, hielt, stellte er heimlich eigene Nachforschungen an. Sein Plan, Lea als Lockvogel einzusetzen und so den Mörder zu fassen, der sein Unwesen im Eifelviertel trieb, kostete sie fast das Leben. Glander konnte sie in letzter Minute retten, und Lea wusste, dass er sich selbst so schnell nicht verzeihen würde, sie in Lebensgefahr gebracht zu haben. Seine Kündigung beim LKA Brandenburg reichte er aus anderen Gründen ein. Dass daraus ein einvernehmlicher Aufhebungsvertrag mit einer ordentlichen Abfindung wurde, lag allein daran, dass am Ergebnis der Ermittlungen ein wenig geschraubt werden musste, um alle Beteiligten – allen voran Kriminalhauptkommissar Prinz – in bestmöglichem Licht dastehen zu lassen. Martin betrachtete die Sache nüchtern und steckte das Geld in den Aufbau seiner privaten Ermittlungsagentur. Lea hatte sich schwerer getan, am Ende aber auch ihren Frieden mit dem Ermittlungsausgang geschlossen. Manche Windmühlen lohnten den Kampf nicht.
Am dritten Septemberwochenende lag, obwohl es noch warm war, der Herbst bereits in der Luft. Das Laub hatte begonnen, seine Farbe zu wechseln, und erste Blätter wirbelten auf die Rasenflächen. Talisker hielt seine Nase in den kräftigen Wind. Lea blickte voller Stolz auf ihren Hund, dessen Schulterhöhe bei 84 Zentimetern lag. Sie hatte fünf Jahre zuvor keinen Moment gezögert, als ihr eine Freundin von einer Züchterin in der Nähe von Dumfries erzählte, die einen jungen deerhound abzugeben habe. Der Schottische Hirschhund zählte zu den ältesten Hunderassen der Welt. Es gab eine Zeichnung aus dem Jahr 1682, die ganz eindeutig einen Scottish Deerhound abbildete. Man vermutete sogar, dass diese Rasse schon seit dem sechzehnten Jahrhundert existierte. Der Poet Sir Walter Scott hatte einen besessen, Queen Victoria hatte vier ihr Eigen genannt und war sicherlich maßgeblich für die zu ihrer Zeit große Popularität dieser Rasse verantwortlich. Der deerhound strahlte Erhabenheit aus, und der hohe Wuchs verlieh ihm ein würdevolles Auftreten. Sein Fell war an rauhes Klima gewöhnt, und Talisker brachte trotz seiner immensen Größe bei schlechtem Wetter verhältnismäßig wenig Dreck mit ins Haus. Er besaß ein so ausgeglichenes Gemüt, dass Lea ihn oft gar nicht bemerkte, wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt. Er war stark, ausdauernd, intelligent und stolz. Talisker zeigte ihr deutlich, wenn er sich vernachlässigt fühlte, und Lea musste jedes Mal schmunzeln, wenn er ihr beleidigt nur das Hinterteil zeigte. Gleichzeitig hatte er ein untrügliches Gespür für ihre Stimmungen. Lea liebte ihren Hund innig, und sie waren nicht erst seit dem Tod ihres Mannes Mark vor etwas mehr als einem Jahr unzertrennlich. Sie hatte sich Sorgen gemacht, wie er Glanders Präsenz in ihrem Leben aufnehmen würde, aber Talisker hatte den neuen Mann an ihrer Seite ganz offensichtlich in sein Herz geschlossen, seit dieser ihm im Juli das Hundeleben gerettet hatte.
Lea wollte heute Morgen eine längere Strecke laufen. Sie würde dem ehemaligen Grenzverlauf in Richtung Marienfelde folgen, dann ein kurzes Stück an der B101 entlang und schließlich quer durch die Felder und das Wäldchen zurück zum Jenbacher Weg joggen. Wenn sie das Tempo anzog, wäre sie in anderthalb Stunden zurück und hätte sogar schon Brötchen geholt. Sie hoffte, Glander dann noch im Bett vorzufinden. Er elektrisierte sie, jede seiner Berührungen weckte ein Verlangen in ihr, das sie lange nicht mehr verspürt hatte. Als Mark erkrankt war, hatte die Sorge um ihn jedes andere Gefühl verschlungen. Vor zweieinhalb Jahren hatte alles angefangen. Mark fühlte sich immer öfter schlecht, verlor Gewicht, klagte über Kopfschmerzen und Gelenkbeschwerden und litt ständig an einem neuen Infekt. Erst nachdem er sich beim Squash den Unterarm brach, hatte sein Arzt eine Vermutung und ließ Mark auf Knochenmarkskrebs testen. Der schreckliche Verdacht bestätigte sich, und die Krankheit befand sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Die Prognose war nicht gut. Lea hörte auf zu arbeiten, Mark begann seine Behandlung: Chemotherapie, Bestrahlungen und Medikamente. Er schien vor ihren Augen zu verschwinden. Nur zehn Monate nach der Diagnose erlag Mark im Sommer des letzten Jahres dem Krebs. Lea beerdigte ihn und nahm mit all ihren gemeinsamen Freunden bei einem rauschenden Fest Abschied. Danach ging sie im Labyrinth ihres Schmerzes verloren. Bis sie Martin Glander begegnete.
Leas Gedankenfluss verlief wieder einmal in Mäandern. Sie hatte inzwischen akzeptiert, dass es in ihrem Innern öfter wirr zuging. Letztlich erreichte sie jedoch immer ein Geistesdelta, an dem ihr Blick ganz weit und klar wurde, und so ließ sie den Schleifen ihrer Gedanken weiter ihren Lauf. Es war wohl auch endlich an der Zeit, sich mit Max Speyer, Marks einstigem Geschäftspartner, zusammenzusetzen und zu überlegen, wie es mit dem Architekturbüro weitergehen sollte. Ebenso sollte sie sich darum kümmern, ihre eigenen alten Kontakte wiederaufzunehmen und neue Übersetzungsaufträge zu akquirieren.
Während Lea auf dem Mauerweg ihren Gedanken nachhing, griff Glander neben sich ins Leere. Er setzte sich auf und sah sich um. Keine Spur von Lea, und auch kein Laut im Haus. Er grinste zufrieden, als er an den vergangenen Abend und die darauffolgende Nacht dachte. Lea hatte ein sagenhaftes Gericht aus Schweinefilet, Oliven, Sherry und Estragon kreiert. Das Dessert hatten sie dann allerdings übersprungen. Er musste noch einmal grinsen, denn bis vor kurzem hätte er Estragon nicht einmal erkannt, wenn es sich ihm persönlich vorgestellt hätte. Leas Talente lagen aber durchaus nicht nur in der Küche. Ihm gefiel ihr Stil, angefangen von der schlichten und eleganten Art, in der sie sich kleidete und ihr Haus eingerichtet hatte, über ihren bisweilen schwarzen und sehr britischen Humor bis hin zu ihrem Whisky-Tick. Lea trank, wenn sie Alkohol konsumierte, nur Malts aus der Region Speyside. Sie war loyal und belesen, schön und sportlich, und sie küsste ganz wundervoll. Glander war kein gläubiger Mensch, aber beim Anblick ihrer achtlos auf dem Boden verstreuten Unterwäsche schickte er eine Dankeshymne in Richtung Zimmerdecke. Dafür, dass er Lea begegnet war, und dafür, dass er sie nicht wieder verloren hatte.
Gegen zwei Uhr früh war Lea mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht in seinen Armen eingeschlafen. Glander sah auf den Wecker. Es war erst halb sieben, da konnte er sich noch einmal umdrehen. Vorher ging er ins Bad, um etwas Wasser zu trinken. Am Spiegel hing ein Zettel: T und ich drehen eine Biege. Frühstück im Bett. L xxx. Die Kreuzchen standen in englischen Briefen für Küsse, das hatte sie ihm erklärt. Die Chancen, an diesem Wochenende das Schlafzimmer