Der Mond und die geheimnisvolle Frau. Klaudia Dietrich
War sie es doch, die mein Leben in diese Bahn gelenkt hatte. Blind und ahnungslos folgte ich dem Weg, auf den sie mich führte. Sie verfolgte ihre eigenen Ziele mit großer Energie. Nun, wie sich später herausstellen würde, hatte sie nicht nur an meinem Leben großes Interesse.
Die Erinnerung peinigte meine Seele und ich weinte. Mein inneres Ich stimmte meiner Entscheidung zu und ich fühlte mich sehr wohl, wenn nicht sogar in einer gewissen Weise befreit. Und doch waren Zweifel sowie Unsicherheit geblieben, meldeten sich hin und wieder zu Wort und redeten meinem Gewissen ein, falsch gehandelt zu haben. Meine Gedanken, meine Gefühle sprangen hin und her und ich war nicht in der Verfassung, sie einzuordnen. Mit einem Seufzer putzte ich mir die Nase, lehnte mich zurück und versuchte das Geschehene der letzten Tage zu vergessen. Denn Ruhe brauchte ich, Ruhe und klare Gedanken.
Meinen Job bei einer großen Werbeagentur hatte ich gekündigt, obwohl ich Jahre hart für diesen Posten in der Chefabteilung gearbeitet hatte. Eine nicht einfache und leichte Entscheidung. Ich hörte jetzt noch meine Chefin sagen: „Frau Garden, man gibt doch nicht so ohne Weiteres einen gut bezahlten Job auf, und schon gar nicht in meiner Firma.“ Dann wurde ihre Stimme eindringlicher: „Sonja, Sie haben jahrelang gearbeitet, um in diesem Job etwas zu erreichen, und nun werfen Sie wegen einer dummen Laune alles über Bord, wer soll das verstehen?“
Ina Porten steckte sich eine Zigarette an und zog nervös daran. Eine 45-jährige, sichtlich verlebte, aber sehr gepflegte, alleinstehende Frau mit braunen, kurzen Haaren, viel Make-up und von hagerer, hochgewachsener Gestalt. Gekleidet wie üblich in einem sündhaft teuren, maßgeschneiderten Kostüm, natürlich mit den dazu passenden Schuhen, Schmuck, Handtasche, ja sogar ihr Zigarettenetui war eine Kostbarkeit und passte farblich dazu. Ihr Büro war groß und mit sehr teuren Möbeln übertrieben eingerichtet, vollgepackt mit wertvollen Antiquitäten und kostbaren Teppichen. Es blieb kaum Luft zum Atmen und es wirkte erdrückend – zumindest auf mich. Dieses Büro hatte für mich Ähnlichkeit mit einem Beerdigungsinstitut, ja ich glaubte sogar, den Geruch von Toten wahrzunehmen.
Frau Porten riss mich aus meinen Gedanken, als sie fragte: „Wollen Sie mehr Geld?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, fügte sie hinzu: „Ich bin bereit, Ihr Gehalt durchaus um eine von Ihnen gewünschte Summe zu erhöhen.“ Frau Porten machte eine Pause und schaute mich erwartungsvoll an. Während sie ans Telefon ging und etwas genervt zu ihrer Sekretärin sagte: „Keine Anrufe mehr durchstellen“, ließ ihr Blick nicht von mir ab.
Für einen winzigen Moment bekam ich heftige Zweifel, ob ich wirklich das Richtige tat. Zugegeben, es war verlockend, aber dann sagte ich: „Ich danke Ihnen und ich weiß Ihr Angebot durchaus zu schätzen, aber nichts kann meine Entscheidung ändern.“
Frau Porten verstand wohl kaum, was mich bewegte, so eine Chance einfach abzuschlagen, was ich ihr nicht übel nehmen konnte, denn ich verstand es selbst nicht. Verstehen konnte es nur meine geheimnisvolle Begleiterin, die ich ab sofort nur „die Geheimnisvolle“ nenne. War sie es doch, die mich, ohne dass ich es merkte, in mein neues Leben lenkte.
Frau Porten wandte ihren Blick nachdenklich zum Fenster, verweilte einen Augenblick dort, drehte sich spontan um und nickte zustimmend. Sie saß in ihrem großen Sessel wie eine kleine, zerbrechliche Puppe und faltete ihre Hände, als wolle sie beten. Dann sagte sie mit einem tiefen Seufzer: „Ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft das Glück, das Sie glauben, mit Ihrer Entscheidung zu finden. Sollten Sie jemals den Wunsch verspüren, wieder zurückzukommen, rufen Sie mich an. Ich werde Sie vermissen.“ Sie gab mir die Hand, mein Zeugnis und ich verließ ihr Büro, ohne mich umzudrehen.
Es tat mir gut, solche Worte von Frau Porten zu hören, die sonst eine knallharte Geschäftsfrau war und nie Gefühle zeigte. Aber so gut mir die Worte auch taten, dieses Büro machte mir, wie in all den Besprechungen mit Frau Porten zuvor, eine Gänsehaut nach der anderen. Ich war heilfroh, endlich das Büro verlassen zu können. Aber ich denke, Frau Porten brauchte und liebte ihr Büro genau so, wie es war, denn diese Atmosphäre half ihr, kreativ und somit erfolgreich zu sein.
Der Abschied von meinen Kollegen fiel mir etwas schwerer, denn wir hatten einige schöne Jahre zusammen gearbeitet. Und nach anfänglichen Schwierigkeiten waren wir ein gut eingespieltes Team geworden. Besonders Berta Weber war meine rechte Hand und eine gute Freundin gewesen, die mir mit Sicherheit sehr fehlen würde. Berta und meine Kollegen Lisa, Vicky, Willi, Uwe und Lea hatten einen Korb mit verschiedenen Sorten Obst, schön verpackt, und eine Flasche Gemüsesaft als Abschiedsgeschenk auf meinen Schreibtisch gestellt. Alle, besonders Berta, lachten und klatschten, als ich den Gemüsesaft auspackte, denn jeden Mittwoch, seit ich hier vor Jahren angefangen hatte, trank ich eine kleine Flasche Gemüsesaft.
Die erste Zeit in dieser Firma war diese Angewohnheit eine Lachnummer für meine Kollegen gewesen. Doch dann, keiner weiß mehr wann, fingen auch die Kollegen an mittwochs Gemüsesaft zu trinken. Wir trafen uns gegen 9.30 Uhr in meinem Büro, plauderten über dies und jenes und tranken Gemüsesaft. Und für jeden, der hier neu anfing, wurde es ein Muss, bei dieser Tradition mitzumachen.
Ich genoss die Abschiedsparty, die meine Kollegen mit viel Liebe für mich organisiert hatten. Danach kam der endgültige Abschied. Berta umarmte mich so heftig, dass mir die Luft wegblieb. Sie hatte etwas zu viel Alkohol getrunken und sang das alte Volkslied, während ich mit meinen Sachen das Büro für immer verließ:
„Nehmt Abschied, Brüder,
ungewiss ist alle Wiederkehr,
die Zukunft liegt in Finsternis
und macht das Herz uns schwer.
Der Himmel wölbt sich überm Land.
Ade, auf Wiedersehen!
Wir ruhen all in Gottes Hand.
Lebt wohl, auf Wiedersehen!“
Natürlich berührte es mich, aber ich hatte meine Entscheidung getroffen, ich musste weg, weg von allem, was mich an mein bisheriges Leben und Alexander erinnerte. Zwar plagten mich starke Zweifel, ob diese Entscheidung nicht übereilt, von meinem Seelenschmerz beeinflusst, falsch war. Wenn ja, dann könnte diese Entscheidung der nächste Wermutstropfen in meinem Leben sein. Da ich aber den Schritt nun schon vollzogen hatte, musste ich mit tiefster Überzeugung daran glauben, das Richtige getan zu haben. Ansonsten unterläge ich dem quälenden Zweifel, das Falsche getan zu haben.
Eine Erklärung für den Zweifel an meiner Entscheidung hatte ich zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht. Wie sollte ich auch, da ich von meinen Gefühlen hin und her gerissen wurde und, ohne es zu wissen, dem Willen einer anderen folgte. Rückblickend kann ich meine innere Unruhe und die vielen Zweifel mit der Beeinflussung durch die Geheimnisvolle erklären. Denn ich ahnte ja nicht, wie sehr mein Leben unter ihrem Einfluss stand. Wie sie mit großer Energie mein Leben in die von ihr bestimmte Richtung lenkte. Oder warnte mich mein Unterbewusstsein? Doch mein Bewusstsein war nicht in der Lage, diese Warnung zu hören. Wie oft in unserem Leben empfinden wir Angst, Unruhe oder nur ein leichtes Unbehagen und können nicht einmal sagen, warum wir so empfunden haben.
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