Schicksalspartitur. Markus Saxer

Schicksalspartitur - Markus Saxer


Скачать книгу
die eine oder andere Patientenanekdote aus, dann erzählte er ihr von seinem letzten Besuch in Hamburg, von der Elbphilharmonie, die gerade eröffnet worden war, schwärmte von der kühnen Extravaganz der Gebäudearchitektur, die ihn und seine Schwester Eva stark beeindruckt hatte. Zu seiner Überraschung entpuppte sich Petra als echter Klassikfan, vor allem Bartók liebe sie, auch spiele sie Klavier, seit ihrer Kindheit schon. Ob sie ihm einmal etwas vorspielen könne, fragte er sie, und sie nickte verlegen und berührte mit den Fingerspitzen ihr Haar, lächelte aber. Ihre Augen sahen aus wie zwei große bernsteinfarbene Puppenaugen.

      In der Restaurantküche klapperten Besteck und Geschirr, wenig später fiel klirrend ein Serviertablett mit Gläsern zu Boden.

      Als sie schließlich alle miteinander aufbrachen, merkte Matthias, dass er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war. Was hatte er an diesem Abend alles getrunken? Egal, er war zu müde, um weiter darüber nachzudenken, es war auch müßig. Tatsache war, dass es ein bisschen zu viel gewesen war, jedenfalls zu viel, um sich jetzt noch ins Auto zu setzen. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, der letzte Bus war längst abgefahren.

      Sie verabschiedeten sich mit Wangenküsschen voneinander (»Mach’s gut, Petra, ich freu mich auf dein Klavierkonzert!«), und als Matthias in seinem alten VW Golf saß, den Zündschlüssel drehte, zum Abschied noch einmal kurz hupte und dann die Scheibe ein wenig herunterließ, weil ihm die frische Luft guttat und ihn wachhielt, wusste er noch nicht, dass ihm eine Fahrt bevorstand, die er niemals vergessen sollte.

      Gähnend schaltete er das Radio ein und gab Gas. Ein knackiger Rocksong von Linkin Park dröhnte blechern aus den Lautsprechern in den Vordertüren. Nach ein paar Kilometern Fahrt begriff er, dass er zu weit links fuhr. Ein Auto kam ihm entgegen, der Fahrer blendete auf und hupte laut. Im letzten Augenblick wich Matthias nach rechts aus und bremste ab.

       O Mist! Ich muss besser aufpassen …

      Er versuchte sich zusammenzureißen, weil dieser Streckenabschnitt besonders kurvenreich war. Aber dann fielen ihm irgendwann fast die Augen zu vor Müdigkeit, und als ihm in einer unübersichtlichen Kurve urplötzlich eine Mercedes-Limousine mit überhöhter Geschwindigkeit entgegenkam und ihn blendete, geriet er mit seinem Wagen auf die Gegenfahrbahn. Nur noch wenige Meter trennten die beiden Fahrzeuge, Matthias riss im letzten Moment das Steuer nach rechts – zu spät für den anderen Verkehrsteilnehmer. Ein Quietschen, ein Bremsen, dann ein gewaltiges Aufschlaggeräusch, das sich wie ein Eispickel in Matthias’ Ohr bohrte. Er sah gerade noch so aus dem Augenwinkel im Rückspiegel, wie der Mercedes gegen einen Baum prallte.

      Plötzlich war er stocknüchtern, hatte seinen Wagen zum Glück aber wieder voll unter Kontrolle. Geschockt fuhr er an den Straßenrand und bremste. Er schmeckte Blut, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte. Im Rekordtempo schnallte er den Sicherheitsgurt ab, stieg aus und eilte zu der in kurzer Entfernung stehenden schwarzen Limousine, die sichtlich am Baum klebte.

      Aus der Nähe erfasste Matthias das ganze Ausmaß des Desasters. Bestürzt sah er den angehobenen Motorblock, verbogenes Blech und zersplittertes Glas. Der Wagen hatte nur noch Schrottwert. Es stank nach auslaufendem Benzin. Zitternd spähte er durch die offen stehende Beifahrertür und gewahrte den Fahrer im dunklen Anzug, der zwischen Fahrersitz und nach hinten verschobenem Lenkrad vornübergebeugt eingeklemmt war. Sein zu einem letzten Schrei geöffneter Mund blieb stumm und verhieß nichts Gutes. Überall war Blut, und selbst der Airbag, der als bloßer Fetzen herabhing und seinen Zweck ganz offensichtlich nicht erfüllt hatte, war damit vollgespritzt. Dieser grausige Anblick und die gespenstische Stille verursachten Matthias ein Schaudern.

      Hastig wischte er mit dem Ärmel die Glasscherben vom Beifahrersitz, auf dem auch ein Handy lag, kniete sich auf das Polster und erfühlte den Puls des verunfallten Mannes an dessen Handgelenk. Nichts … Der Fahrer war tot!

      »Scheiße, verdammte. Scheiße!«, entfuhr es ihm, während sich seine Augen in Panik weiteten. Der Schock saß tief. Verzweifelt raufte er sich die Haare. Tausend Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Matthias kroch aus dem Wagen, weil ihm zum Kotzen übel wurde. Er sah an sich herunter und bemerkte an seiner Hose Blutflecken, selbst seine Hände waren voller Blut. Ein kurzer Blick zurück in den Wagen, dann übergab er sich am Straßenrand. Er kniete im Dreck und ihm lief der Angstschweiß über den Rücken, der allerdings nicht nur dem toten Fahrer im Auto geschuldet war, sondern auch der Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, was er nun tun sollte. Er nestelte nach seinem Handy, fand es aber nicht in seinen Taschen. Wahrscheinlich lag es in seinem Wagen. Aber wen sollte er überhaupt anrufen? Die Ambulanz brauchte hier niemand, und die Bullen würden ihn nur …

      Ganz allmählich begann Mattias wieder klarer zu denken, sein Herz schlug nicht mehr so heftig wie noch vor einigen Minuten und der Promillewert in seinen Adern schien nach diesem Ereignis auf null gesunken zu sein. So beschloss er, sich in dem Auto gründlicher umzusehen, vielleicht fand er ja einen Hinweis auf die Herkunft des Fahrers. Aber dazu kam es nicht. Seine rechte Hand berührte plötzlich Stoff – den glatten plastikartigen Stoff einer prall gefüllten Sporttasche auf dem Boden des Beifahrersitzes. Er stieg aus dem Wagen, blickte sich um, und mit einer gewissen Erleichterung bemerkte er, dass es keine Zeugen gab. Die Landstraße war zu dieser Nachtzeit öde und verlassen.

      Mit einer gewissen Vorahnung hob er die Tasche auf den Sitz und öffnete den Reißverschluss, und als er den Stoff auseinanderschob, fiel sein Blick auf weiß schimmernde Banknoten. Er nahm die Sporttasche aus dem Wagen und untersuchte ihren Inhalt genauer. Tatsächlich war sie vollgestopft mit dicken Banknotenbündeln. Hatte sein Herz schon vorher wie verrückt geklopft, so raste es nun geradezu. Eine riesige Geldsumme befand sich in dieser Tasche, und er konnte kaum glauben, was er sah, fast vergaß er zu atmen. Als er über sich ein leises Rauschen vernahm, hob er den Blick zu den Baumkronen, die von der dünnen Milch des Mondes übergossen waren, und sein Gesicht nahm eine papierblasse Farbe an. Der Wind strich durch die Blätter und brachte das Laubwerk zum Rascheln. In der Ferne bellte ein Hund.

      Und dann hatte Matthias eine Idee, eine teuflische, und die Muskeln um seinen Mund spannten sich an …

      Sollte er das Geld einfach an sich nehmen? Dem Fahrer würde es ohnehin nichts mehr nützen, er war ja eh tot. Ihm kam in den Sinn, dass er mit der Wohnungsmiete im Rückstand war, weshalb ihn die Immobilienverwaltung erst neulich schriftlich abgemahnt hatte. Ganz zu schweigen von seinen Steuerschulden …

      Weshalb kurvte dieser Kerl überhaupt mitten in der Nacht mit einem solch immensen Vermögen in der Gegend herum? Wahrscheinlich war er ein Krimineller. Ein Drogendealer oder ein Bankräuber. Oder möglicherweise ein Geldwäscher.

      Vielleicht hatte Matthias der Gesellschaft sogar einen Gefallen getan, indem er ihn …

      Nein, so etwas durfte er nicht mal denken, das stand ihm aus Respekt gegenüber dem Toten nicht zu, er wusste ja gar nichts über ihn. Inzwischen war er, die Tasche unter dem Arm, mit mechanischen Bewegungen zu seinem Wagen zurückgekehrt. Sein Rücken war schweißnass und in seinem Kopf hämmerte es. Er deponierte das Geld im Kofferraum, startete den Wagen, legte krachend den Gang ein, und mit der Schuld, die er auf sich geladen hatte, und seiner Beute hinter sich fuhr er so rasant nach Hause, als säßen ihm die Furien im Nacken.

      Um zwei Uhr morgens parkte er den Golf auf dem angemieteten Parkplatz in der Tiefgarage.

      In seiner Küche machte er sich einen doppelten Espresso und ging dann ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und zog sein verschwitztes Hemd aus, das er achtlos auf den hässlichen, mit kinetischen Wirbeln in Rot und Senfgelb gemusterten Linoleumboden fallen ließ. Zitternd vor Müdigkeit und betäubt von seinem traumatischen Erlebnis leerte er den Inhalt der Sporttasche auf sein Bett, übersäte es mit Dutzenden Bündeln zu fünfzig Fünfhundert-Franken-Scheinen. Erschöpft legte er sich in Embryohaltung neben das Geld und starrte es gedankenverloren an, bis ihm die Augen zufielen.

      Nach ein paar Stunden Schlaf stellte Matthias Rentz ungläubig fest, dass er die Nacht mit 1,5 Millionen Franken verbracht hatte.

       Verdammte Axt, ich bin Millionär!

      Aber er konnte sich über dieses Geld nicht so recht freuen. Erstens gehörte es einem anderen, und zweitens hatte er mit dem Unfall, seiner Fahrerflucht


Скачать книгу