Erinnerungen. Bruno Kreisky
sozialdemokratische Spitzenpolitiker und ehemalige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Willy Brandt beschrieb in seinem Buch Links und Frei. Mein Weg 1930 – 1950 seinen langjährigen Freund Bruno Kreisky als »Doppelnatur«, als einen überzeugten Sozialisten – aber mit einem »Schuss Liberalität«, der es verstand, sowohl zu Universitätsprofessoren als auch zu Arbeitern so zu sprechen, dass sie fasziniert waren. Beide waren immer wieder massiven Ausgrenzungsversuchen ausgesetzt und wurden als Exilanten (»Verräter«) und Kreisky dazu als Jude (ÖVP-Wahlkampfplakat mit dem Porträt von Josef Klaus 1970: »Der echte Österreicher«), sowie Brandt als unehelicher Sohn einer Proletarierin (Konrad Adenauer 1961: »Brandt alias Frahm«) attackiert. Gleichzeitig fanden beide weit reichende emotionale Anerkennung bei den Menschen.
Mehr als 20 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Memoirenbandes Bruno Kreiskys, ist es an der Zeit, für eine jüngere Generation, aber auch für manche Älteren jenen Politiker wieder in seiner Selbstdarstellung zu Wort kommen zu lassen, der nach wie vor in der politischen Kultur der Gegenwart häufig zitiert wird, wobei zunehmend die negative Kritik bei ehemaligen politischen Kontrahenten in allen politischen Lagern abnimmt und die Konfliktlinien von einst verwischt werden. Noch fehlt trotz interessanter Ansätze eine umfassende Biografie Kreiskys, aber in der vorliegenden Zusammenstellung der wichtigsten Kapitel aus den drei Memoirenbänden hat Kreisky selbst – häufig geschickt versteckt und manchmal fast zur Unerkenntlichkeit umschrieben – wichtige Wegmarken auf den Weg zu einer kritischen Biografie hinterlassen, die sich auch den kritischen Leserinnen und Lesern erschließen.
Aus rund 1.300 Seiten der drei Memoirenbände habe ich 500 Seiten ausgewählt, wobei ich das Schwergewicht auf jene ersten beiden Bände gelegt habe, die Bruno Kreisky noch selbst redigiert hat und die wesentliche persönliche und politische Prägungen dokumentieren sowie seine zentralen innen- und außenpolitischen Ziele und persönlichen Einschätzungen wiedergeben. Reihenfolge und Dramaturgie gingen bei dieser Kürzung nicht verloren, sondern wurden bewusst erhalten.
Die Memoiren Band I und II sind auf der Grundlage von Tonbandaufzeichnungen Bruno Kreiskys – meist in seinem Ferienhäuschen auf der spanischen Insel Mallorca – entstanden. Rund zwei Drittel der Gespräche fanden in vier mehrtätigen Arbeitssitzungen mit dem Berliner Verleger Wolf Jobst Siedler (und bei den ersten beiden Begegnungen mit dem Journalisten und Sachbuchautor Joachim C. Fest) sowie in Anwesenheit von Kreiskys langjähriger Mitarbeiterin Margit Schmidt und des Herausgebers dieses Bandes, Oliver Rathkolb, statt. Die Rolle der genannten Personen blieb auf vereinzelte Fragen beschränkt, auf die Bruno Kreisky in Form längerer Monologe antwortete. Die 2.000 Seiten mit Transkripten wurden von einem Lektor, Thomas Karlauf, in Berlin in eine von Kreisky vorgegebene Inhaltsstruktur eingepasst. Meine Aufgabe war es, das originalgetreue Lektorat – zeitweise gemeinsam mit Marietta Torberg – zu überprüfen, was zu einem exzessiv großen Korrekturaufwand für die Herstellung im Siedler Verlag führte. Band I wurde in weiterer Folge von Kreisky nochmals stark bearbeitet und auf zahlreichen Seiten völlig neu diktiert. Band II erfuhr weniger starke Änderungen. Rund ein Drittel des Rohmaterials entstand während Arbeitssitzungen mit Margit Schmidt und dem Verfasser dieses Vorworts, der als wissenschaftlicher Konsulent die Gesamtproduktion im Auftrag Kreiskys kritisch – auch mit zusätzlichem Material – begleitete. Für Band III der Memoiren, der 1996 posthum von Oliver Rathkolb, Johannes Kunz und Margit Schmidt herausgegeben wurde, wurden weitere Materialien, die den O-Ton Kreisky wiedergaben, verwendet, um unter Vermeidung jedes Ghostwriting eine authentische Zusammenstellung und Verbindung dieser vorhandenen Memoiren-Transkripte und anderer Archivmaterialien aus der Stiftung Bruno Kreisky Archiv in Wien mit O-Ton Kreisky herzustellen. Hier wurde das Lektorat von Doris Sottopietra fachkundig umgesetzt. Die Originaltonbänder (»Lebensinterviews Bruno Kreisky«) werden von der Österreichischen Mediathek in Wien verwahrt.
Wie bei keinem Kanzler der Zweiten Republik vor ihm sprachen alle traditionellen innenpolitischen Strukturbedingungen gegen ihn, alle sozialen und internationalen Trends aber für ihn. Bruno Kreisky war zwar 1931 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten, seine jüdische Herkunft war jedoch sowohl in der Sozialistischen Arbeiterjugend und in der illegalen Bewegung als auch nach 1945 durchaus bekannt. Aufgrund des latenten, bereits während der Studienzeit rabiaten Antisemitismus, der nach 1938 eskalierte und nach 1945 im Untergrund weiter wirksam blieb, glaubte Kreisky daher selbst nie, eine Spitzenfunktion in der Politik erreichen zu können. Häufig benützte er das Diktum vom »besten zweiten Mann«. Gleichzeitig gab es bereits in seiner Mittelschulzeit nur ein klares Ziel: Politik zu machen.
Aufgrund dieser Situation, die durch den sozialen Aufstieg seiner Familie – und die großbürgerliche Verwandtschaft zur Felix-Dynastie in Znaim – noch verstärkt wurde, war Kreisky in einer doppelten Minderheitenposition. Als Jude und Intellektueller wurde er von der Sozialistischen Arbeiterjugend nur nach langem Zögern akzeptiert. Kreisky versteckte seine bürgerliche Herkunft nicht, was auch die teuren Anzüge eines verstorbenen Cousins unterstreichen sollten, aber er wollte nicht in den Intellektuellenzirkeln des Verbands Sozialistischer Mittelschüler bzw. Studenten politisch aktiv sein. Er suchte die Nähe zur Basis und ließ sich selbst durch unausgesprochenen (oder in der Illegalität durchaus ausgesprochenen) Antisemitismus nicht abschrecken.
Kreisky war bereits von frühester Jugend an etwas, was man heute als »Wissensmanager« bezeichnen würde. Er las unglaublich viel, insbesondere auch in der Zeit der Haft wegen illegaler politischer Aktivitäten während des Schuschnigg-Regimes 1935/1936. Gleichzeitig war er ein scharfer Analytiker seiner Umgebung; selbst die Haftzeit nützte er, um seinen Mithäftlingen näher zu kommen, um diese Menschen zu verstehen. Bereits vor 1938 zeichnete ihn die Tatsache aus, dass er gerne gegen den Strom Ideen entwickelte und diese umsetzen wollte. Pessimismus fehlte ihm völlig. So lebte er förmlich auf, als sich um die Jahreswende 1937/1938 eine Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus und den »Anschluss« zu entwickeln schien; er weigerte sich einfach, den Fatalismus, den viele an den Tag legten, zu akzeptieren.
In einem Punkt war Kreisky vielen seiner Zeitgenossen voraus: Er war nie ein Deutschnationaler, trotz »großdeutscher« Onkel in der Familie (die beide im NS-Regime umkamen) und verstand sich als Produkt des Melting Pot der österreichisch-ungarischen Monarchie. Wer Kreiskys Memoiren genau liest, wird auf Schritt und Tritt hinter scharfer Kritik an der Politik der Habsburger dieses tiefgehende Interesse am Großraum der Monarchie wieder finden, eine wichtige Voraussetzung für sein Denken in internationalen Zusammenhängen, das durch das Interesse für die Anti-Kolonialismusbewegungen und die Sozialistische Arbeiter-Internationale intellektuell bereits in den 1930er-Jahren weit über den »deutschen« Kulturraum in Europa hinausging.
Im Exil in Schweden verstärkte sich sein Österreich-Heimat-Gefühl, auch vor dem Hintergrund eines demokratischen und unprätentiösen Patriotismus, den er ab 1938 in Stockholm erlebte. Im Exil erweiterte sich auch sein Interesse an großen Räumen (z. B. bezüglich der Entwicklungen in China), aber auch an der Monarchie. Seine Österreich-Begeisterung, die er in der Unterstützung für österreichische Militärflüchtlinge (die positive Bezeichnung für Deserteure aus der Deutschen Wehrmacht) und in der Exilorganisation unter Beweis gestellt hatte, konnte selbst nach Kriegsende durch die Einreisesperren der US-Besatzungsbehörden nicht gebremst werden. Mit einem französischen Permit schlug er sich von Vorarlberg aus 1946 nach Wien durch, um dort mit einer neuerlichen Ausgrenzung konfrontiert zu werden. Trotz persönlicher Begeisterung vieler Freunde aus der Jugendbewegung über seine Heimkehr schickte ihn die Parteispitze um SPÖ-Vizekanzler Adolf Schärf und Bundespräsident Karl Renner zurück in den Norden Europas: Der junge jüdische Intellektuelle sollte offenbar vorerst von der Partei ferngehalten werden. Der Posten als Zugeteilter eines schrulligen postmonarchistischen Gesandten in Stockholm war keineswegs eine adäquate Beschäftigung für den höchst aktiven Exilpolitiker Kreisky, der aber auch sehr rasch mit dieser Niederlage fertig wurde. Die Erkrankung seiner Frau Vera, die er 1942 geheiratet hatte, verlängerte den Aufenthalt in Schweden, sodass er erst 1951 zurückkam.
Dass Kreisky dann so rasch in die Spitzenpolitik aufrückte, war reiner Zufall und hatte primär mit Bundespräsident Theodor Körner, dem früheren Wiener Bürgermeister und k. u. k. Oberst und Generalstabschef der 1. Isonzoarmee, zu tun. Als Kreisky in der wirtschaftspolitischen Abteilung des Bundeskanzleramtes, Auswärtige Angelegenheiten arbeitete, suchte Schärf einen politischen Sekretär für den höchst unberechenbaren