Schnee von gestern. Florian Asamer
die Bindung zu öffnen und die Skier, so wie sie waren, liegen zu lassen. Man wusste ja, wo sie waren. Später allerdings leider nicht mehr so genau.
Wollte man mittagessen, und alle wollten zu Mittag essen, also so gegen halb eins, dann stellte sich die Frage: drinnen oder draußen? Wobei, eigentlich stellte sie sich nicht: War es warm und schön, musste man drinnen sitzen. War es eisig kalt, aß man im Freien. Denn die Hütten an den neuralgischen Punkten waren zu den Stoßzeiten so überfüllt, dass man froh sein musste, überhaupt noch irgendeinen Platz zu bekommen. Und der war immer dort, wo gerade niemand sein wollte. Da wir uns unser Essen selber holen mussten, galt es, sich einen Tisch zu sichern, bevor man sich ums Essen anstellte. Am beliebtesten waren in der Hütte Eckplätze mit Bank, jene vor der Hütte die an der Hauswand. Hatte man einen Platz ergattert, reservierte man ihn mit einem ganzen Haufen an Materialien: Hauben, Handschuhen, Skibrillen, oft auch Anoraks zeugten davon, dass hier nichts mehr zu holen war. Uns Kindern war immer zu heiß oder zu kalt.
Apropos Hütte: Das mit Abstand Gefährlichste am gesamten Skisport waren nicht etwa Fahrten in ungesicherten Tiefschneehängen, Sprünge über nicht einsehbare Schanzen oder waghalsige Schussfahrten – sondern in der Skihütte die Toilette erfolgreich aufzusuchen. Mit geschlossenen Skischuhen versuchten wir die gefliesten, nassen und damit unendlich rutschigen Stufen in den Keller hinunterzusteigen. Hatte man das geschafft, ohne sich den Hals zu brechen, kam der nächste heikle Teil. Unter den verschiedenen wärmenden Schichten etwa jenen Teil herauszuwurschteln, der einem Erleichterung verschaffen konnte. Wer sich hinsetzte, riskierte, dass der obere Teil des Overalls die eklige Nässe am Boden berührte, außer man hatte alles Ausgezogene gekonnt verknotet. Bis dahin klopften dann aber schon zig Wartende an die Klotür.
Auch für unsere Eltern war das Einkehren wenig erholsam. Kaum hatten sie sich hingesetzt, waren wir mit unserem Essen schon fertig und drängten auf den Aufbruch. Vor allem bei schönem Wetter im Freien gab es immer Diskussionen: Die Erwachsenen wollten nach dem Essen gerne noch ein bisschen in der Sonne sitzen und die Augen zumachen. Wir dagegen so schnell wie möglich wieder in die Bindung steigen.
Schneepflug statt Pizzaschnitte
Die Teilnahme am Skikurs war so selbstverständlich wie die täglich frischen Semmeln zum Frühstück. Ein nicht verhandelbarer Bestandteil des Urlaubs, der spätestens nach Erlernen der Grundtechniken sogar Spaß machen konnte. Höhepunkt war neben dem Privileg, als Erster hinter dem Skilehrer fahren zu dürfen, das Mittagessen in der Skischule, bei dem es alles gab, was einem die Eltern auf der Hütte nie kaufen wollten: Pommes, Würstel, Pudding und Eis. Im Winter! Danach durften wir kurz fernsehen, und es lief immer „Tom & Jerry“.
Heute verweigern viele Kinder den Skikurs. Obwohl der Schneepflug inzwischen Pizzaschnitte genannt wird. Und der Parallelschwung Spaghetti. Entweder sind die heutigen Eltern um so viel cooler als unsere oder ihre Kinder haben die für uns so erstrebenswerten Nebenaspekte (Frittiertes, Gummibärchen, Fernsehen) sonst ohnehin im Übermaß zur Verfügung. Zugegeben – glückliche Vierjährige im Skikurs waren damals wohl auch selten. Aber spätestens mit Ende der Volksschule dachte man, man hätte mit dem Skikurs die Eltern abgeschoben und nicht umgekehrt. Schlimm war nur das Skirennen – samt Siegerehrung auf einem Bierkistenpodest –, bei dem immer der gewann, der eigentlich viel schlechter Ski fahren konnte. Das ging aber auch nie mit rechten Dingen zu.
Skifahren war eine ernste Angelegenheit. Die Frage, ob man als Kind überhaupt Ski fahren lernen wollte, stellte sich nicht, sondern nur die Frage nach dem Wann: Kurz bevor man gehen konnte oder erst knapp danach? Wie man diese unabdingbare Kulturtechnik erlernte, war ebenfalls klar vorgegeben: Man wurde möglichst jung in einen Skikurs gesteckt. Denn nur wer schon von klein auf mit dem Wintersport Bekanntschaft machte, stellte sich zum Beispiel mit sechs Jahren nicht mehr die grundsätzliche Frage nach dem Warum.
Unsere eigenen Kinder, die wir offenbar zu spät mit Skiern konfrontiert haben, reagierten fast entrüstet auf das Angebot, bei Affenkälte in Foltermontur den ganzen Tag im Freien zu verbringen. Vor allem da es drinnen gemütlich ist oder der Flug in die Wärme nur die Hälfte dieses grässlichen Skiurlaubs kostet. Diese Frage hat sich uns damals nicht nur mangels leistbarer Fernreisen erst gar nicht gestellt. Wir waren so früh in die Ski-Maschinerie geraten, dass wir ein Teil von ihr geworden waren.
Im Skikurs gab es eine klare Vorgangsweise. Da die Eltern nicht wirklich die Härte hatten, ihre Kinder, die knapp dem Windelalter entwachsen waren, vier Stunden lang weinend über den Zwergerlhang purzeln zu lassen, gab es die Skilehrer. Sie erledigten diesen dreckigen Job mit Lässigkeit. Sie schafften es, Kinder, die aufs Klo mussten, so lange hinzuhalten, bis alle aufs Klo mussten. Tränen zu ignorieren, das Mittagessen als Höhepunkt zu inszenieren, aber auch erste Erfolge mit der gebotenen Ernsthaftigkeit zu würdigen.
Dazu hatte der Skilehrer neben seiner natürlichen Autorität, die ihm seine Könnerschaft auf den Brettern verschaffte, noch eine Methode, die Gruppe zusammenzuschweißen. Heute sagt man dazu „Team building“. Sobald die Kinder in der Früh das erste Mal meist an einem Schild mit einer Disneyfigur versammelt waren, bildeten sie mit angeschnallten Skiern eine Reihe. Dann stellte jeder den rechten Ski senkrecht auf, sodass der Skilehrer unsere Laufflächen sehen konnte. Er sprach die Zauberformel: „Wir begrüßen einander und den neuen Skitag mit einem dreifachen …“ und dann schrien alle drei Mal hintereinander „Ski Heil“. Dasselbe an die jeweilige Tageszeit angepasste Ritual ging vor der Mittagspause und am Nachmittag vonstatten, bevor sich die erschöpfte Gruppe auflöste. Uns kam die Ski-Heil-Brüllerei nie komisch vor, aus heutiger Sicht erscheint sie uns ein wenig befremdlich.
Wir selbst machten als Eltern den Fehler, den Kindern selber das Skifahren beibringen zu wollen. Und obwohl uns heute noch die Oberschenkel und der Rücken brennen, wenn wir daran denken, wie wir mit dem Schleppliftbügel unterhalb der Knie die endlos scheinende Liftfahrt durchgestanden haben, lernten unsere Kinder nie mehr so gut Ski fahren wie wir damals. Das Skifahren ist übrigens eine der führenden „Bruttosportarten“. Das heißt, man verbringt den größten Teil der Zeit mit Anreise, Vorbereitung, Liftfahrten und Nachbereitung. Kleine Kinder pistenfertig zu machen dauert noch einmal so lange. Das macht das „Netto“, also jene Momente, in denen man dann tatsächlich talwärts fährt, so besonders kostbar.
Das Ausschalten des Skilehrers in den ersten Lehrjahren könnte also mitverantwortlich sein für das Ende des Skifahrens als Volkssport.
Aus der Spur ins Gelände
Vom „Lehrplan“ her gab es im Skikurs eine klare Vorgangsweise. Nachdem es gelungen war, nicht mehr ständig im Stehen umzufallen, begann man im flachen Bereich zu rutschen. Als auch das einigermaßen verlässlich ohne Sturz funktionierte, standen wir vor dem größten Problem. Wie bremsen? Dafür war der Schneepflug angeblich das Mittel der Wahl. Aber schwierig zu erlernen. Daher fuhren wir, als wir halbwegs sicher auf Skiern standen, erst einmal eine ganze Zeit lang nur Schuss und kümmerten uns erst ums Bremsmanöver, wenn ein unüberwindbares Hindernis auftauchte. Zäune, Hüttenwände und dergleichen.
Beim Skikurs wurde in der Spur gefahren. Entweder fuhr der Skilehrer voraus, und die Gruppe stand oben an wie an einer Supermarktkasse, um dann einzeln den Hang (möglichst in der Spur des Skilehrers) nachzufahren. Oder man fuhr in einer Schlange den ganzen Hang hinunter. Immer darauf achtend, nicht dem Vordermann hineinzufahren und doch den Bogen an der Stelle hinzubringen, an dem der Skilehrer ihn gemacht hatte. In der Spur nachfahren war allerdings ein bisschen wie Autofahren mit dem Navi. Wenn man es später ohne machen sollte, fand man den richtigen Weg nicht mehr.
Sobald man schließlich eigenständig den ganzen Tag unterwegs war, interessierte einen die Piste selbst eher weniger. Das war die Reaktion auf das ständige In-der-Spur-bleiben-Müssen. Die zwei Dinge mit magischer Anziehungskraft waren Schanzen und das freie Gelände. Schanzen suchten oder bauten wir. Vom Lift aus begutachteten wir jede Kante auf ihre Sprungtauglichkeit hin. Wir waren zwar durchaus risikobereit, aber keine Hasardeure. Es durfte weder Verkehr im Anlauf sein, noch durften im Auslauf Leute herumstehen. So dauerte es oft einen ganzen Vormittag und zig Fahrten rauf und runter, die im Grunde nur den einen richtigen Sprung über die Schanze zum Ziel hatten. Vor allem jene Schanzen, bei denen man im Flachen landete, können wir heute noch