Ökumene um jeden Preis?. Gerson Raabe
Daher ist bei den gegenwärtigen ökumenischen Gesprächen in der Regel, wie wir jetzt mehrfach gesehen haben, auch keine Rede mehr von den spezifischen Inhalten – mithin dem Profil –, die die jeweilige Konfessionskirche auszeichnen. Dem gilt es gegenzusteuern. Erforderlich wäre es, das Eigene, das Besondere, das, was die eigene Unverwechselbarkeit ausmacht, wieder in den Blick zu nehmen.
Motor in der Ökumene waren seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem die konfessionsverschiedenen Ehepaare. Sie bewegte in erster Linie die Frage, ob sie Gemeinschaft bei der Feier des Abendmahles haben können oder nicht. Auch andere theologische Grundfragen wurden hier gewissermaßen stellvertretend für die gesamte ökumenische Landschaft diskutiert: die Bedeutung der Kirche, das Verständnis des Amtes eines Priesters bzw. eines Pfarrers, die Frage nach der Stellvertretung Christi in der Person des Papstes und vieles mehr. Die Debatte um die gemeinsame Mahlfeier führte dazu, dass in nicht wenigen Gemeinden eine gemeinsame Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier Praxis wurde. Die Frage nach der Zulassung zum Abendmahl wurde sozusagen aufgeweicht.
Dem setzte die katholische Kirchenleitung spätestens zum ökumenischen Kirchentag 2003 ein Ende, indem die Unmöglichkeit der Mahlgemeinschaft erneut unterstrichen wurde. Zur jüngsten Initiative, die durch den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, im Frühsommer 2018 erfolgte, wird man festhalten müssen, dass sie wiederum merkwürdig halbherzig ausfiel. Warum – so fragt man sich – soll die Gemeinschaft nur für konfessionsverschiedene Ehepaare und nicht für alle Anderskonfessionellen diskutiert werden? Andererseits wäre dies ein erster Schritt und es stünde dem Protestantismus gut an, den deutschen Reformkatholizismus nicht bei nächstbester Gelegenheit im Regen stehen zu lassen. Bei der letzten größeren Initiative im Umfeld von Donum Vitae unter dem damaligen Vorsitzenden Kardinal Karl Lehmann war der deutsche Reformkatholizismus gegenüber Rom leider wenig erfolgreich.
Hinzu kommt allgemein gesehen jene Entwicklung, die wir eben bereits gestreift haben. In jüngerer Zeit verlagerte sich der Glaube des Einzelnen in zunehmendem Maße in die Privat- bzw. gar in die Intimsphäre. Bereits bei Jesus von Nazareth findet sich der Satz, dass diejenige oder derjenige, der beten wolle, in sein Kämmerlein gehen, sich also zurückziehen solle. Von Jesus selbst ist uns eine solche Frömmigkeitspraxis überliefert. Er ging in die Einsamkeit, wenn er mit seinem Vater allein sein wollte. Durch die Entdeckung der religiösen Individualität und vor allem durch die Bedeutungszunahme des Einzelnen innerhalb der Moderne wurde diese Entwicklung enorm verstärkt. Wie wir noch genauer sehen werden: Vor der Klammer, in der steht, was ein Mensch glaubt, steht immer dieses Ich: „Ich“ glaube … Mit der Verschiebung des Glaubens in die Privat- und Intimsphäre schwand aber auch der Gesprächsbedarf konfessionsverschiedener Ehepaare.
Schließlich wird man sagen können, dass durch die beschriebenen Entwicklungen ein Prozess befördert wurde, den gewiss auch anderweitige Motivlagen begünstigt haben, nämlich der Exodus der Religion aus den großen Konfessionskirchen. Es gehört zu den spannenden Aufgaben der Zeitdiagnostik zu ermitteln, wo Religion außerhalb der Kirchen verifiziert werden kann.
Hier ist zunächst und als Erstes an den großen Markt des Kulturellen zu denken, der sich derzeit ohnehin in einem nicht unerheblichen Wandel befindet. Diese Veränderungen bringen es auch mit sich, dass Menschen Religion in Zusammenhängen leben, die in deutlicher Entfernung zu kirchlichen Wirklichkeiten stehen. Zu denken wäre hier etwa an den großen Markt des Filmes, in dem etwa Schuld und Vergebung, Erlösung und Heil thematisiert werden, an Musik und Konzerte, an Events aller Art, aber auch an eine blühende Freizeitindustrie, die sich in Sport und Natur, in Literatur und zahlreichen Formen der Selbstfindung und in der Kombination vieler dieser Elemente miteinander auslebt.
Sprach man im ausgehenden vergangenen Jahrhundert von einem Christentum außerhalb der Kirchen und räumte diesem hohe Bedeutung und ein selbstverständliches Recht ein, so gilt heute das Gleiche für eine Religion außerhalb der Kirchen. Das Christentum außerhalb der Kirche war ein mündiges, ein selbstverantwortetes Christentum, das sozusagen für seine Praxis auf die Kirche verzichten konnte. Im Unterschied zu einem Christentum außerhalb der Kirche ist eine Religion außerhalb der Kirche allerdings schwerer zu identifizieren.
Jedenfalls bedarf eine entsprechende Diagnostik noch mehr an Sensibilität und Anstrengung, als es für ein Christentum außerhalb der Kirche der Fall war. Doch es lohnt sich, hier genauer hinzuschauen. Denn auch für eine Religion außerhalb der Kirche könnte es bezeichnend sein, dass sie für ihre Praxis auf die Kirchen verzichten kann. Und es könnte für eine solche Religion außerhalb der Kirchen möglicherweise auch gelten, dass sie Religion in einem ganz eigentlichen Sinn sind, dass wir es hier im besonderen Maße mit lebendiger Religion zu tun haben.
Zwischenbilanz
Eine erste Diagnose kann daher lauten, dass die großen Konfessionskirchen erheblich unter dem Schwund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung leiden. Unsere moderne ausdifferenzierte Gesellschaft bedarf keines Wächteramtes kraft höherer Ordnung. Die ökumenischen Anstrengungen können dem wenig oder gar nichts entgegensetzen. Im Gegenteil, sie verstärken diesen Bedeutungsschwund eher noch! Wenn nicht mehr recht einzusehen ist, welche Bedeutung den Kirchen in unserer Gesellschaft zukommt, dann ist auch nicht einzusehen, welcher Gewinn mit einem gemeinsamen Auftritt verbunden sein könnte. Es handelt sich dann bei einer intensivierten Ökumene nicht mehr um zwei sinkende Schiffe, sondern um zwei oder mehrere Konfessionskirchen – je nachdem, wie viele in den Blick genommen werden – in einem sinkenden Schiff.
Der Protestantismus diskreditiert sich selbst, indem er den ihn kennzeichnenden Grundgedanken der religiösen Gleichheit nicht konsequent in die Praxis umsetzt. Anders gesagt: Die ihm wesensgemäß aufgegebene Struktur der Pluralität wird letztlich nicht wirklich und nicht konsequent gelebt. Die mit dem Drang zur Eindeutigkeit einhergehende Gefahr der Komplexitätsreduzierung trifft für alle Konfessionskirchen zu und zu solcher Reduktion von Komplexität kommt es insbesondere in aktuellen ökumenischen Diskursen, die geradezu davon leben, die Eigenheiten einer Konfessionskirche zu nivellieren oder auszublenden. Der Katholizismus etwa ist ohne sein spezifisches Kirchenverständnis als Katholizismus gar nicht zu verstehen. Und wer dem Protestantismus sein Wesensmerkmal nimmt, dass er sich als Gewissensreligion versteht, der ignoriert eine seiner wesentlichen Grundbestimmungen.
Daher hatte auch der Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher im vorletzten Jahrhundert zu Recht darauf hingewiesen, dass es in der Auseinandersetzung zwischen den großen Konfessionen nicht um „wahr“ oder „falsch“ gehen kann. Die Anwendung dieser Prädikate, der Prädikate „wahr“ oder „falsch“, ist im Diskurs der Konfessionen unzulässig, weil sie eben auf ihre je eigene Weise Individualisierungen der christlichen Religion sind. Mit ihrem jeweiligen immanenten Recht verkörpern die Konfessionen, was unter christlicher Religion verstanden werden kann. Und diese jeweilige Individualisierungsgestalt lässt sich nur verstehen, wenn die Aspekte ihres Wesens erkannt und verstanden werden.
Wer die profilbestimmenden Momente einer Konfession nicht versteht, versteht nicht, warum es sich bei ihr um eine Individualisierungsgestalt der christlichen Religion handelt, denn er oder sie versteht dann gerade nicht, was diese Gestalt individuiert und als besondere kennzeichnet. Nur wer ermessen kann, warum dies so und jenes anders ist, kann je eigene Weisen verstehen, in denen das Eine – nämlich die christliche Religion – einmal so und einmal eben auch anders auftreten kann. Genau darin aber dürfte ein wahrhaft ökumenisches Interesse bestehen, sich angesichts der sich voneinander unterscheidenden Profile in Respekt zueinander zu verhalten, verbunden in der Überzeugung, dass es sich je um eigene Individualisierungsgestalten der einen christlichen Religion handelt. Anders gesagt gilt wohl umgekehrt auch, nur wer die Individualisierungsgestalten der christlichen Religion erkennt, entdeckt, was Religion in dieser spezifischen christlichen Form ist.
Dabei sind vereinnahmende und egalisierende Verhaltensweisen ebenso fehl am Platze wie etwa das ausgrenzende Votum von Dominus Jesus, mit dem der damalige Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger auf die gemeinsame Feststellung zur Rechtfertigungslehre reagierte, indem dort nämlich formuliert wurde, dass „die evangelische Kirche nicht Kirche im eigentlichen Sinne“ sei. Die evangelischen Kirchen (wie es aufgrund der historischen Genese genauer heißen