Angstfrei glauben. Johann Gerhardt

Angstfrei glauben - Johann Gerhardt


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      Während ich schreibe, denke ich an eine Frau aus meiner Gemeinde. Schon in jungen Jahren hatte sie sich taufen lassen. Sie liebte Musik, ihren Beruf, ihren Gott. Als sie fünfzig ist, überfällt sie eine Depression. Und mit ihr kommt die Angst. Sie hat Zwangsgedanken, Flüche gegen Jesus sind dabei. Hat sie die Sünde gegen den Heiligen Geist begangen?

      Als ein Befreiungsgebet des Pastors nicht hilft, ist sie sich sicher. Die Angst wird zur Gewissheit, zum Zwang. Was soll man machen, wenn man von Gott verstoßen ist? Die Frau weiß nur noch einen Ausweg. Sie nimmt das Gericht Gottes vorweg, wie sie meint, und bringt sich um.

       Im Andenken an sie und für alle, die die Angst vor dem Gericht Gottes umtreibt, ist dieses Buch geschrieben.

      Auf unserer theologischen Hochschule studiert ein junger Mann, viel versprechend. Er hat seine Zukunft Gott geweiht. Er will oder muss Pastor werden, aber dann bricht er das Studium ab und hat gleichzeitig Angst, Gott werde ihn bestrafen, weil er sein Gelübde gebrochen hat.

       Für ihn und alle anderen, die Angst haben, eigene Entscheidungen zu treffen, ist dieses Buch.

      In meinem Büro sitzt ein Student. Wir sprechen über Theologie. Er sagt: „Ich kann nicht mehr so glauben wie früher.“ Das befreit ihn einerseits, macht ihm aber auch Angst. Wie ist Gott wirklich? So, wie er ihn von den Eltern kennen gelernt hat? Fordert er wirklich absoluten Gehorsam? Oder ist er ein Gott, der Freiheit und Selbstverantwortung will?

       Für ihn und alle anderen, die spüren, dass Evangelium eine Chance ist zum Wachstum und zum Risiko, ist dieses Buch.

      Und letztlich ist es für mich selbst. Beim Schreiben und Nachdenken kann ich mich erneut vergewissern. Was bedeutet mir der Glaube? Was gebe ich weiter und wie? Schöpfen die Menschen Mut? Ich weiß, die Botschaft des Evangeliums ist größer als unser Leben, immer größer als mein Leben. Weil das Buch vom Evangelium spricht, deshalb ist es auch ein Buch für mich.

       Wir leben mit der Angst

      Alle Welt spricht von Liebe. Liebe ist Thema Nummer eins. Sie wird besungen in endlos vielen Liedern und beschrieben in unzähligen Büchern. Sie motiviert zu edlen Taten – und manchmal auch zu großen Dummheiten. Sie macht stark und schön und gehört wie die Sonne zu unserem Leben.

      Aber im Schatten der Liebe gedeiht eine andere Pflanze. Sie hat sich ebenfalls über die ganze Welt ausgebreitet und wuchert bis in unsere Seelen hinein. Wenn sie überhand nimmt, kann sie die Empfindungen für das Schöne im Leben ersticken. Diese Wucherpflanze heißt Angst.

       Angst als Schutz

      Angst gehört wie die Liebe zu unserem Leben. Manchmal kann man ihr sogar eine gute Seite abgewinnen: Stellen wir uns vor, wir hätten nie Angst! Vielleicht würden wir überhaupt nicht mehr leben! Angst vor Gefahren macht vorsichtig und umsichtig. Wir spüren das Risiko und bleiben auf der sicheren Seite: Lieber bei Rot an der Ampel anhalten, auch wenn ich es eilig habe und gerade keiner da ist – aber vielleicht kommt doch noch ein anderer Raser?

      Lieber nicht ungesichert auf ein Dach steigen. Lieber die Leiter nehmen, anstatt einen wackligen Stuhl oben auf einen noch wackligeren Tisch stellen. Lieber den Strom abstellen, ehe ich an der Steckdose hantiere. Lieber einen Bogen um den Hund machen, lieber …

      So kann Angst unser Leben schützen. Wir verkleinern das Risiko auf einen Rest, den wir ertragen können oder müssen. Doch auch wenn ich vorsichtig bin und folgsam bei Rot an der Ampel stehen bleibe, kann jemand auf mich auffahren. Auch wenn ich meine regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen machen lasse, kann etwas in der Zwischenzeit krank werden.

      Doch wenn das befürchtete Ereignis eintritt, muss ich mir wenigstens keine Vorwürfe machen, unverantwortlich gewesen zu sein. Die Angst hat mich beschützt, so gut es eben ging.

      Angst schützt nicht nur das persönliche Leben, sondern auch die Moral, zumindest äußerlich. Viele Untaten werden nicht begangen, aus Angst, „erwischt“ zu werden – von den Kindern angefangen bis zu den Erwachsenen, vom einfachen Bürger bis zum hehren Volksvertreter im Parlament, frei nach Wilhelm Busch: „Moral sei nicht das Gute, das man tut, sondern das Böse, das man lässt.“

      Angst durch Abschreckung sichert auch das Überleben von Staaten und verhindert, dass aus einem „kalten“ Krieg ein „heißer“ wird. Weil Angst also vorsichtig macht und Leben schützen kann, lehren wir schon kleine Kinder, Angst zu haben vor den Gefahren, und sagen: „Fass die Herdplatte nicht an! Sie könnte immer heiß sein und dann verbrennst du dich.“ Um noch nachdrücklicher zu sein, legt Mama oder Papa die Hand des Kindes auf die Herdplatte. Diese ist zwar nur gut warm, aber trotzdem zuckt die kleine Hand zurück. Das Erziehungsziel ist erreicht, die Angst ist programmiert – obwohl wir vielleicht später hoffen, unser Kind wäre auch mutig und nicht zu übervorsichtig.

      Mit Recht sagen Eltern ihren Kindern „Steigt nicht in ein fremdes Auto! Öffnet keinem Fremden die Wohnungstür! Nehmt keine Süßigkeiten und keine Schokolade von jemandem, den ihr nicht kennt! Seid vorsichtig! Es könnten schlimme Menschen dabei sein, die euch weh tun wollen!“

      So lehren wir Angst und hoffen, sie schützt das Kostbarste und zugleich Verwundbarste, was wir haben – unsere Kinder. Doch wir zahlen immer einen Preis, denn die einmal „gelernte“ Angst setzt sich tief in der Seele fest.

       Der Preis der Angst

      Der Schutz durch Angst fordert seinen Preis. Wir müssen dafür bezahlen, ja manchmal dafür büßen. Die einen müssen Waffen produzieren, bis ihnen die Puste ausgeht. Die anderen können nicht wahrhaft echt sein, weil sie ja nicht dürfen, was sie eigentlich wollen. Die Dritten trauen sich nichts mehr zu, weil sie Angst haben vor dem Urteil anderer.

      Doch wahre Tugend und Moral ist nicht die Vermeidung von Strafe, sondern die gute Gesinnung und das Streben nach dem Guten von innen heraus. Der Preis ist auch körperlich und seelisch zu zahlen. Angst verkrampft, vertreibt den Schlaf. Das Essen schmeckt nicht. Dort, wo normalerweise der Magen sein soll, fühlt man einen „Knoten“ im Bauch. Die Verdauung streikt. Und auch die Seele bekommt die Angst zu spüren, sie trauert oder ist angespannt. Freude währt nur einen Augenblick, denn hinter dem Moment lauert das Ungewisse.

      Um die Stimmen der Angst im Inneren zu übertönen, muss der Lärm von außen lauter werden. Um die Dunkelheit der Seele zu vertreiben, müssen die Lichter zucken und helle Blitze werfen. Um die Starre des Körpers zu überwinden, muss er durch den stampfenden Rhythmus angetrieben und umhergeworfen werden. Um der inneren Angstleere zu entgehen, müssen künstliche Traumbilder und esoterische Fluchtwelten entstehen.

      Angst ist zum ständigen Begleiter geworden. Das ist der höchste Preis. Sie lässt sich nicht mehr abschütteln. Wir müssen mit ihr leben wie mit einem ständig wiederkehrenden Virus.

      Wir zahlen für Medikamente und Therapeuten, für Kliniken und Rehabilitation, für die Industrie der Glücksmomente und Glücksdrogen. Und wir merken: Den eigentlichen Preis zahlt der Mensch selbst. Denn einmal „gelernte“ Angst ist nur schwer zu verlernen und hat die Tendenz, sich dauerhaft einzunisten.

       Die persönliche Seite der Angst

      Obwohl Angst ein universales Phänomen ist, hat sie auch eine persönliche Seite. Immer ist es der Einzelne, der Angst verspürt, selbst wenn eine Masse in Panik davonstürmt.

      Wenn ich Angst verspüre, ist es meine Angst. Der andere kann sie vielleicht gar nicht verstehen. Ich z. B. habe keine Angst vor Spinnen. Es macht mir nichts aus, wenn eine dort lebt, wo ich auch lebe. Im Gegenteil, sie fangen Fliegen und Fliegen stören mich – im Gegensatz zu Spinnen –, wenn es nicht zu viele sind (weil meine Gäste sonst denken könnten, ich habe ein unordentliches Haus).

      Aber ich kenne jemanden, der große Angst hat, wenn


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