Freu(n)de, Hoffnung, Malzkaffee. Christian Noack
läuft ständig herum. Er hat so viel Energie und Lebenslust. Vor einigen Tagen zählte er auf, worüber er sich freut: über das Kinderzimmer, all seine Spielsachen, den schönen Sandkasten im Garten, den Fernseher, dass wir so reich sind – wenn er wüsste! –, dass er Arme und Beine hat, eine Schwester und eine Mami. Vor allem aber freut er sich, dass er selbst da ist, meinte er zum Schluss.“
„Kindermund tut Wahrheit kund“, zitiert Lukas ein Sprichwort. „Es ist natürlich besser zu leben, als gar nicht zu existieren. Denn wir sind nicht in ein furchtbares oder sinnloses Leben hineingeworfen. Es ist doch vielmehr so: Erst sind wir neun Monate im Mutterleib geborgen. Nach der Geburt können wir selbst atmen. Danach wachsen wir – hoffentlich behütet – in einer Welt auf, deren Atmosphäre uns vor tödlicher Strahlung schützt. Dazu das klare Wasser, die Wärme der Sonne, die fruchtbare Erde, die Pflanzen und Tiere. Ist es nicht einfach eine Freude zu leben – gerade jetzt im Sommer?“
„Die Winterzeit gefällt mir genauso gut“, bekennt Julia. „Skifahren in den Bergen im glitzernden Sonnenlicht, durch Neuschnee wedeln oder eine Schussfahrt riskieren. Ich erlebe Freude sehr intensiv im Winterurlaub.“
„Was ihr beschreibt, ist Schönheit“, meint Maria. „Auch wenn uns etwas bei der Arbeit oder beim Sport gelingt, hat das mit Schönheit zu tun. Freude ist das entsprechende Gefühl dabei. In meinem Laden verkaufe ich, was man Krempel nennt, aber wenn man genau hinschaut, sind diese Gegenstände schön: kleine Schränkchen, ein altes Radio mit Holzgehäuse, fein gestickte Kissen, selbstgeflochtene Körbe, bunte Vasen, verzierte Gläser. So etwas verschönert eine Wohnung und erfreut die Kunden.“
Lukas lächelt: „Ja, die Wohnung als kleine Welt für sich!“
„Genau!“, stimmt Maria zu. „Nicht nur die Natur, sondern auch unsere menschliche Kultur ist in der Regel schön und macht uns Freude.“
„Deshalb finde ich die Architektur im Krankenhaus so unangenehm“, sagt Julia. „Neonlicht, lange Flure, gestrichene Wände – das können die Reproduktionen moderner Malerei an ihnen nicht ausgleichen. Doch Funktionalität kann auch schön aussehen. Ich denke dabei an die Linienführung meines Cabrios. ‚Freude am Fahren‘ – dieser Werbespruch trifft zu.“
„Jetzt aber mal weg von der Oberfläche des Designs zur Tiefe des Wortes“, fordert Stefan. „Lukas, sag’ du als Religionslehrer mal etwas zum Thema.“
„Gerne“, erwidert Lukas, „wenn ihr erlaubt, dass ich Gott dabei ins Spiel bringe.“
„Nur zu, wenn es mehr Tiefgang bringt!“, ermutigt ihn Stefan.
„Ich will es versuchen. Am Beginn der Bibel steht ein Text, der sagt, dass die ganze Natur und wir Menschen als eine Schöpfung Gottes zu verstehen sind. Faszinierend ist für mich, wie und auf welche Weise Gott geschaffen hat. Es geschah nämlich durch sein kraftvolles Wort: ‚Gott sprach: ‚Es werde Licht.‘ Und es ward Licht.‘1 Danach betrachtete er das Geschaffene und sagte: ‚Gut!‘ Das hebräische Wort könnte man auch mit ‚schön‘ übersetzen. Zum Abschluss der Schöpfungswerke sagte Gott sogar ‚sehr gut‘2 – sehr schön! Das bedeutet: Nicht nur aus unserer, sondern auch aus Gottes Sicht leben wir in einer Welt, deren Schönheit uns veranlassen möchte, uns zu freuen. Ich glaube, dass es Gott Freude macht, das Dasein aller Geschöpfe und des ganzen Universums zu ermöglichen. Was wir als Schönheit in der Natur erleben, verdanken wir Gott.“
„Genau dafür bin ich Gott dankbar“, knüpft Maria an. „Wenn ich bete, danke ich Gott zunächst für all das Schöne, was er geschaffen hat, und für die Freude im Leben. Und ich danke ihm auch für positive Erlebnisse und seine Hilfe.“
„‚Danke, Gott, dass ich lebe‘ – so beginnt mein Glaube“, berichtet Lukas.
„Langsam wird mir das zu positiv und zu verklärt“, meint Julia. „Das Leben ist doch auch hart: Krankheiten, Bosheit, Tod – um nur mal drei Übel zu nennen.“
„Natürlich, aber heute stand die Freude im Mittelpunkt des Gesprächs“, stellt Stefan fest. „Mit ihr sehen wir unser Leben in einem freundlichen Licht.“
„Zu Recht!“, meint Maria.
„Ich möchte ein anderes Mal aber auch die dunkle Seite beleuchten“, beharrt Julia. „Und die bleibt trotz des Lichtes dunkel.“
„Das Leid oder das Böse als Thema?“, fragt Lukas sie, darauf eingehend.
„Eher das Leiden, denn das ist mein Alltag.“ Eine Traurigkeit huscht über ihr Gesicht. Auch ihre drei Freunde wirken mit einem Mal etwas bedrückt. Erinnerungen an schwierige Zeiten und schmerzhafte Erlebnisse werden in ihnen wach.
Dann lächelt Julia wieder. „Ich wollte euch nicht die Laune verderben. Ich freue mich sogar, jetzt wieder zur Arbeit zu gehen.“
Sie möchte noch das nächste Treffen festmachen. „Passt es euch kommende Woche zur gleichen Uhrzeit? Dann aber in der Cafeteria der Klinik, in der ich arbeite; dann hätte ich mehr Zeit. Seid ihr einverstanden?“
„Von mir aus gern“, sagt Maria.
Stefan und Lukas nicken zustimmend.
3. Leiden
Julia steht am Bett eines Siebenjährigen und stellt die Infusion für eine Chemotherapie bei Leukämie ein. Die Kinderstation ist freundlicher eingerichtet als die sonstigen Trakte der Klinik: ein sonniges Gelb ist an den Wänden, in das Tierfiguren gemalt sind – Affen, Giraffen, Elefanten und Pelikane.
Julia spürt, dass Jonas sich matt und fiebrig fühlt. Sie weiß, dass er ohne Medikamente starke Schmerzen hätte. Für Kinder sind die Heilungschancen bei Blutkrebs mittlerweile zwar recht gut, aber seine Blutwerte deuten an, dass sein Körper zu wenig Abwehrkraft hat.
In Jonas’ Bett liegen mehrere Kuscheltiere verstreut. An der Wand neben seinem Bett hängen Bilder, die er in den letzten Tagen gemalt hat: eine untergehende Sonne, einen Menschen als schwarzen Schatten und einen Jungen mit Flügeln. Aufgrund ihrer Ausbildung weiß Julia die Symbolik zu deuten: Jonas bereitet sich auf das Sterben vor und auf das, was danach kommen könnte. Sie streicht ihm vorsichtig über die warme Stirn.
Dann sieht sie auf ihre Uhr und stellt fest, dass ihre Freunde wohl seit einigen Minuten in der Cafeteria warten. Sie geht schnell hinunter.
Tatsächlich sitzen die drei schon an einem Tisch. Kuchen aus der Cafeteria liegen auf schmucklosen, weißen Tellern. Daneben stehen ihre Lieblingsgetränke in Bechern: Cappuccino, Milchkakao und tatsächlich Malzkaffee.
Julia wird von den Anderen herzlich begrüßt.
Sie entschuldigt sich: „Ich bin etwas länger bei einem von meinen kleinen Patienten geblieben. Bei ihm sieht die Prognose schlecht aus.“
„Schon hier in der Cafeteria fühle ich mich unwohl“, gesteht Stefan. „Krankenhäuser mag ich gar nicht. Wie gelingt es dir, hier jeden Tag zu arbeiten, sogar auf einer Krebsstation für Kinder?“
„Bei mir trifft das Klischee der Ärztin, die Leben retten will, tatsächlich zu“, erklärt sie. „Das war mein Hauptmotiv, um Medizin zu studieren – nicht das Ansehen als Ärztin oder das Einkommen, wenn man sich selbstständig macht. Ich habe zwei ältere Brüder und hatte noch einen jüngeren Bruder, der aber nicht mehr lebt. Er hatte von Geburt an einen Herzfehler und ist nur vier Jahre alt geworden. Für mich – ich war damals sieben – war das sehr schlimm. Ich hatte ihn so lieb. Bald stand mein Entschluss fest, Ärztin zu werden, um Menschen zu helfen und Leben zu retten. Um das zu erreichen, war ich schon in der Schule recht ehrgeizig. Hinter meinem Rücken wurde ich Streberin genannt.“
„Bist du immer noch ehrgeizig?“, fragt Lukas sie.
„Ja, auch hier in der Klinik. Ich arbeite gern, weil ich die Behandlung optimieren will: genauere Diagnosen, verbesserte Therapien. Jeder Tag ist eine Herausforderung. Nebenher sammle ich Daten für wissenschaftliche Publikationen.“
„Dein Umgang mit dem Leid ist also quasi ein Kampf gegen das Leid mit Hilfe