Das Schweigen redet. Johannes Czwalina
mit der das achtjährige Kind seinen Zorn in den Nachttisch geritzt hatte, entzündet eben dasselbe Gefühl der verzweifelten Wut erneut. Die zurückgelegte Zeit erlischt in diesem Moment, die geschichtliche Erfahrung zerrinnt. Als ob ein Druckausgleich stattfände, saugt der geöffnete Raum der Vergangenheit alle Gegenwart in sich hinein – und die frühere Emotion entlädt sich jetzt, da ihr kein Anlass, kein Grund, mehr gegeben ist.28
Viele der Opfer haben deshalb eine problematische Beziehung zu ihren Kindern, da man im guten Umgang mit Kindern innerlich gewissermaßen oft stillstehen muss, wenn man ihnen voll und ganz gerecht werden möchte. Und genau dieses Innehalten konnten viele wegen ihrer Vergangenheit nicht leisten. Stillstehen hätte den Kindern Anlass geben können, Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollten.
Die aus der Ukraine stammende jüdische Musikerin Bella Liebermann schreibt von diesen Kindern, dass ihnen später die Erinnerung an eine stabile Kindheit und Jugend fehlte, die aber die Grundlage für eine gesunde Entwicklung der Psyche bildet.29 Sie beobachtete bei den Kindern später im jugendlichen Alter vermehrt Identitätsprobleme. Diese seien immer dort entstanden, wo die Kinder noch im Kleinkindalter ihre Eltern entbehrten, weil diese ihnen zu wenig persönliche Aufmerksamkeit widmen konnten.30
Schuldbewusstsein wird verdrängt
Das Schweigen der Opfer war aus einem Nicht-reden-Können entstanden, das der Täter aus einem Nicht-reden-Wollen. Der Münchner Psychologe Louis Lewitan bezeichnete dieses Verhalten der Täter und Mitläufer des Dritten Reichs als eine „Verschwörung des Schweigens“. Man redet nicht davon, man fragt nicht. Das Prinzip des Verdrängens, Verleugnens, des Nicht-wissen-Wollens hat funktioniert. Das Schweigen geschah und geschieht im vollen Bewusstsein. Sie verschweigen, damit es nicht nach außen dringt. Ein Täter gesteht selten im Nachhinein aus schlechtem Gewissen seine Tat. Schuldgefühle verspürt er nur, wenn er bei seinem Tun ertappt wird.
Führen wir uns vor Augen: Opfer wurde man im Nationalsozialismus meist zufällig. Es genügte die falsche Religion, der falsche Geburtsort, ein körperlicher Defekt oder eine abweichende politische Meinung. Täter oder Täterin hingegen konnte man nur aktiv werden, die Entscheidung zur Teilnahme am Verbrechen wurde, auch wenn es eine „Pflicht“ zu erfüllen gab, von jedem selbst getroffen – sie ist daher auch von jedem selbst zu verantworten.31
Ein Mensch führt selten eine schlechte Tat mit fatalen Auswirkungen aus, ohne sich nicht vorher eine moralische Begründung dafür zurechtzulegen. Hat er sich eine Rechtfertigung erst einmal glaubhaft eingeredet, kann er sein eigenes Vergehen erfolgreich ausblenden und sich ohne spürbare Gewissensbelastung wieder dem Alltag zuwenden. So lässt es sich ohne größere Probleme mit der verschwiegenen Last der Tat leben. Verdrängung ist der Vorgang, durch den eine innerseelische Belastung (ein Gedanke, eine Erinnerung etc.) ins Unbewusste abgeschoben und von dort nicht mehr direkt ins Bewusstsein gelassen wird: Der ins Unbewusste verbannte Bewusstseinsinhalt teilt sich nach seiner Abspaltung nur indirekt durch verschiedenste körperliche Symptome, Versprecher oder Angst und Wunschträume mit.
In Anspielung auf einen NS-Verbrecher kommentiert die Psychoanalytikerin Thea Bauriedel: „Gewiss hat er Schuldgefühle gehabt, so wie die allermeisten Nazitäter. Und weil er Schuldgefühle hatte, habe er weitergemacht. Jede Wiederholung, jede Steigerung von Taten habe auch dazu gedient, das zuvor Geschehene zu legitimieren. Warum trete jemand nach, wenn der andere bereits am Boden liegt, obwohl das der menschlichen Natur widerspreche? Weil er auf die eigenen Schuldgefühle draufsteigt. Die Spirale dreht sich dann immer weiter aufwärts, bis man gar nicht mehr aufhören könne.“32
Ich möchte an dieser Stelle wenigstens ein Beispiel anführen, das belegt, dass Schuldbewusstsein durchaus vorhanden war. Es gibt keinen Täter, der nichts von seiner Schuld weiß. Das macht folgendes Beispiel für Mitleid plausibel:
Adolf Eichmann wurde im Herbst 1941 auf Befehl des Gestapochefs Müller nach Minsk geschickt, um dort „praktische Erfahrungen für die Endlösung“ zu sammeln. Darüber fertigte er zeitnah einen Bericht an:
Es war ein kalter und trüber Tag, als ich auf dem Gelände ankam, das das Einsatzkommando ausgewählt hatte. Mich fror, obwohl ich einen Ledermantel anhatte, der mir bis zu den Knöcheln reichte. Auf dem Gelände war ein großer Graben ausgehoben. Es schien mir ein Panzergraben zu sein, und als ich hinzutrat, sah ich, dass der Graben schon gut zur Hälfte mit Leichen angefüllt war, mit nackten Leichen, Männern, Frauen, Greisen und Kindern. Dann führte man einen neuen Trupp Juden heran. Es mögen an die hundertfünfzig gewesen sein. Sie mussten sich in der Kälte nackt ausziehen und in den Graben auf die Leichen steigen. Das alles ging mit einer unheimlichen Ruhe vor sich. Niemand klagte, niemand weinte. Im letzten Augenblick, als das Erschießungskommando die Maschinenpistolen bereits entsicherte, sah ich, wie eine jüdische Frau ihr Kind – es mochte ein oder zwei Jahre alt sein – in die Arme riss und sich umdrehte, als wolle sie das Kind schützen. Das ging mir nahe. Ich wollte hinzuspringen, um das Kind zu retten, aber ich kam zu spät. Schon peitschten die Pistolenkugeln; das Kind wurde in den Kopf getroffen, und das Gehirn spritzte auf meinen Mantel. Ich bin dann mit meinem Fahrer in die Unterkunft gefahren, und wir haben das Blut und die Gehirnspritzer entfernt. Mir war klar, dass dies eine unmenschliche Lösung war, und ich fuhr sofort nach Berlin, um Müller zu melden, was ich erlebt hatte, und ihn zu fragen, ob es nicht möglich sei, eine humanere Methode anzuwenden …33
Wie der spätere Eichmann-Prozess zeigt, gelang es den Tätern, den eigenen Schuldanteil zu verdrängen. Mit dieser Verhaltensweise konnten sie meist erstaunlich gut psychisch überleben. Unentdeckte Täter hatten oft ein normales Leben ohne sichtbare psychische Folgen führen können. Sie meisterten diese Lebenslüge viel besser als ihre Kinder, die gar nicht selbst am Holocaust beteiligt waren. Es ist bekannt, dass Täter und übrigens auch Mitläufer fast nie den Weg in eine psychologische Beratungspraxis oder in die Seelsorge fanden, um sich dort als Täter zu erkennen zu geben.
Der gleichnamige Sohn von Hitlers Stellvertreter Martin Bormann (der in den Nürnberger Prozessen in Abwesenheit zum Tod verurteilt wurde) fand durch seinen persönlichen Verarbeitungsprozess den Weg ins Priesteramt. Von dem israelischen Psychologen Dan Bar-On wurde er gefragt: „Hat Ihnen einmal jemand Gräueltaten gebeichtet, an denen er während des Vernichtungsprozesses beteiligt war?“ Darauf antwortete Bormann:
Nein, daran kann ich mich nicht erinnern … doch, Moment, es gab eine Situation, aber ich bin nicht sicher, ob es das ist, was Sie suchen. Er kam zu mir, kurz bevor er starb. In seiner Beichte sagte er mir, dass in all den Jahren ihm die braunen Augen eines sechsjährigen Mädchens keine Ruhe gelassen hätten. Er war als Wehrmachtssoldat in Warschau während des Aufstandes im Ghetto. Sie hatten die Bunker zu räumen, und eines Morgens kam ein sechsjähriges Mädchen aus einem dieser Bunker zu ihm gelaufen und hielt ihm die ausgestreckten Arme entgegen. Er konnte sich noch an den Blick ihrer Augen erinnern, erschreckt und vertrauensvoll zugleich. Dann befahl ihm sein Vorgesetzter, sie mit dem Bajonett niederzustechen, was er auch tat. Er hat sie getötet. Aber der Blick in ihren Augen hat ihn sein Leben lang verfolgt. Und er kam zu mir, um es zu beichten. Er hat es zuvor nie jemandem erzählt.34
Bar-On:
Sagen Sie, vielleicht können Sie mir helfen zu verstehen: Wieso waren es nur diese Augen? Warum erinnerte er sich nicht an die Augen von all den anderen, die er vielleicht auch getötet hat? Warum war er der Einzige, der gebeichtet hat? Was machten all die anderen mit den Augen der Kinder und Frauen, die sie hilflos anschauten, bevor sie getötet wurden? Können Sie mir sagen, wie er diese Erinnerung die ganze Zeit für sich behalten konnte?35
Bar-On forschte bei seinen Deutschlandreisen in den 80er und 90er Jahren bei Priestern, Ärzten und Psychiatern nach Beichtsituationen von Nazitätern. Von 80 befragten Medizinern konnte keiner von einer solchen Beichte berichten.
Das berühmte Heidelberger Psychologenehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich stellte in den 60er Jahren über den psychischen Gesundheitszustand der Deutschen fest: „Aus den Aufzeichnungen von über 4000 Patienten geht hervor, dass wir nur extrem wenige Anhaltspunkte für den Zusammenhang ihrer gegenwärtigen Symptome mit Erlebnissen der Nazi-Zeit fanden. Deklarierte Nazis erschienen so gut wie nie.“36