Goethes Autorität. Gustav Seibt
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Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Gustav Seibt,
geboren 1959 in München,
lebt heute in Berlin. Er war Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Autor der ZEIT und arbeitet seit 2001 für die Süddeutsche Zeitung. 1995 wurde ihm der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, 1999 der Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg-Stiftung, 2011 der Deutsche Sprachpreis und 2012 der Friedrich-Schiedel-Literaturpreis verliehen. Von ihm erschienen sind u. a. »Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt« (2001), »Goethe und Napoleon. Eine historische Begegegnung« (2008) und bei zu Klampen »Canaletto im Bahnhofsviertel. Kulturkritik und Gegenwartsbewußtsein« (2005) sowie »Deutsche Erhebungen. Das Klassische
und das Kranke« (2008).
GUSTAV SEIBT
Goethes Autorität
Aufsätze und Reden
Inhalt
Wo das kulturelle Herz Deutschlands schlägt
Rede zum Dank für den Deutschen Sprachpreis in Weimar am 30. September 2011
Goethe im Empire
Vom Leben mit der Überlegenheit
Über die Wiedererkennungen des William Gaddis
Meine Außenseiter
Über Jacob Burckhardts Vorlesungen zur Geschichte des Revolutionszeitalters
Friedrich von Gentz und die Pluralität der Staaten
Fahrt zu den Schauplätzen von Theodor Fontanes Roman »Vor dem Sturm«
Philosophien des Lachens von Platon bis Plessner – und zurück
Weltgeist auf Spaziergängen
Wo das kulturelle Herz Deutschlands schlägt
Preussen erlebt gerade eine seiner periodischen Wiederauferstehungen im historischen Gedächtnis. Angeregt von den Jahrestagen seiner Niederlagen und seiner Reformen vor zweihundert Jahren, befeuert von glänzenden Darstellungen wie der Christopher Clarks (»Preußen«) oder der Günter de Bruyns (»Als Poesie gut«), die beide Bestseller wurden, entdeckt das Publikum einen mit Geist und Wissenschaft verbündeten Staat jenseits des Militarismus. Die intellektuelle Humboldt-Nostalgie und die unverminderte Aktualität von Schinkels Funktionalismus tun ein Übriges.
Aktuell dürfte ebenso wichtig sein, dass ein Jahrzehnt nach dem Hauptstadtumzug die Neuankömmlinge begonnen haben, sich im Berliner Umland einzurichten, in alten Gutshäusern oder Scheunen, neben den schlichten Kirchen mit ihren Soldaten- und Dichtergräbern. Fontane wird einer neuen Generation zum lokalhistorischen Führer ins Preußische, und eigentlich wartet man auch auf Neuausgaben der »Hosen des Herrn von Bredow« von Willibald Alexis und anderer Heimatliteratur, die ja auch in der DDR nie ihre Stellung verloren hatte.
Aber so schön die steppenhafte Stille zwischen Beeskow und Angermünde für den ruhebedürftigen Großstädter ist, so gern man Bio-Obst aus Brodowin genießt, so hübsch die Gutshäuser bei Großziethen anmuten: Es sind eben vor allem Stille und Leere, die diese Gebiete so reizvoll machen für Großstädter, die gern einmal dem Überangebot entfliehen und am Wochenende eine kleine Offiziersanekdote zu schätzen wissen, von einem Junker, der einem königlichen Befehl ausnahmsweise nicht folgte und auf sein Grab schrieb: »Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.«
Wer zweihundert Kilometer weiter nach Süden fährt, gelangt in ein Gebiet, wo deutlich mehr los war, dessen Geschichte so verzwickt und kleinteilig ist, dass sie für nostalgische Identifikationen völlig untauglich ist, obwohl von hier buchstäblich fast alles ausging, womit Deutschland die Welt positiv beeinflusst hat. Zwischen Wittenberg an der Elbe und Weimar an der Ilm erstrecken sich diese nach Süden zu immer gebirgigeren Gegenden, in deren kleinen Städten sich für drei Jahrhunderte eine geistige Produktivität in einer Dichte entfaltete, für die man Parallelen nur in der Toskana der Renaissance oder im antiken Griechenland findet. Thüringen und die ehemals anhaltischen Gebiete sind das, was man in Italien immer von Umbrien sagt: das Herz unseres Landes. Aber davon schweigen des Liedes Stimmen, die von Preußen so viel zu sagen wissen.
Das ist seltsam, weil eine bloße Aufzählung schon die Frage aufwirft, wie das möglich war: Von hier ging die lutherische Reformation in die Welt, die sich zwischen Erfurt und Wittenberg entwickelte und ohne die beispielsweise die Vereinigten Staaten von Amerika nicht das wären, was sie sind. Hier wurde, zwischen Weimar und Dessau, der Stil des Bauhauses entwickelt, der das Aussehen der Metropolen auf dem ganzen Globus bis heute prägt. Hier waren die Wirkungsstätten von Bach und Goethe, hier war zuvor von Luther in seiner Bibelübersetzung die deutsche Sprache geschaffen worden, mit der wir uns heute noch schriftlich verständigen.
Als Goethe 1813 die Totenrede auf Christoph Martin Wieland hielt, da sagte er, in Anspielung auf die Schlacht von Jena und Auerstedt, die Weltgeschichte habe sich »auf unseren Spaziergängen« entschieden. Das gilt mehr noch im Geistigen. Als Napoleon 1806 von Jena nach Weimar ritt, da lag in der einen Stadt die »Phänomenologie des Geistes« auf einem Schreibtisch, in der anderen der erste Teil des »Faust«. Aber beherrscht wurden diese Gebiete nicht von einem glanzvollen Machtstaat, sondern von ineinander verkeilten Fürstentümern, die anderswo als bessere Grundherrschaften gegolten hätten.
Da gab es an der Elbe einen Fürsten, der sein ganzes Land in einen Landschaftsgarten verwandelt hatte und die Abschlussprüfungen an seinen Schulen gern selbst abnahm. In Jena stand eine Universität, die von vier Trägern mühsam auf den Beinen gehalten wurde, an der aber soeben ein Umsturz der Philosophiegeschichte stattgefunden hatte. In Weimar hatte der Herzog sich gerade von seinem besten Dichter eine neue Innenausstattung für sein Schloss entwerfen lassen. Im Sommer spielte man in einem Nest namens Lauchstädt vor fünfhundert Leuten, meist Studenten aus Halle, Stücke, die eigentlich vor das Publikum einer »Comédie française« gehört hätten, und der abwesende Theaterdirektor, Herr von Goethe, ließ sich von seiner Lebensgefährtin die Abendeinnahmen melden – sie bewegten