Goethes Autorität. Gustav Seibt
wie ihn Goethe selbst bis in die Farbgebung hinein entworfen hat, fast unverändert noch besteht, um dieses erschütternde Missverhältnis von puppenhafter Umgebung und geistigem Höhenflug zu ermessen. Der Weltgeist bewegte sich wirklich auf Spaziergängen, und die meisten verlaufen noch am selben Ort. So in Ilmenau, in Ossmannstedt oder Bad Berka – kaum ein Ort, wo nicht ein klassisches Werk geschaffen wurde.
Was hat diese Produktivität ermöglicht? Man könnte große Theorien dazu entwickeln, beispielsweise die von der Situation eines ehemaligen Koloniallandes, in dem die Dinge, die anderswo schon entwickelt worden waren, noch einmal vereinfacht und zugespitzt und somit erst richtig exportfähig gemacht wurden: die deutsche Sprache, die hier von Luther dialektarm fürs Überregionale geschliffen wurde, oder das Christentum, das derselbe Luther vom Gewimmel der Heiligen und kirchlichen Vorschriften befreite, oder das funktionale Bauen, das sich hier im Klassizismus von Wörlitz und im Bauhaus so schön wie praktisch und kostengünstig ausbildete.
Handfester ist vielleicht die kleinhöfische Situation: Sie bot die Verbindung von Schutz nach außen mit materieller Beschränkung im Inneren, die zusammen Eigensinn und Einfallsreichtum beförderten. Ohne seinen sächsischen Fürsten wäre Luther einer der vielen verbrannten Ketzer des Spätmittelalters geworden. Und der Repräsentationsbedarf von einem Dutzend Höfen auf engstem Raum befeuerte ein riesiges Kunsthandwerk zur ästhetischen Erziehung einer ganzen Region – aber mit bescheidensten Mitteln. Die Kultur zwischen Wörlitz und Weimar besteht weitgehend aus Gips, Pappmaché und heimischen Baustoffen, der Glanz musste hier ganz aus der Konzeption, dem glücklichen Einfall kommen. Die untrügliche Sicherheit im Geschmack, bis in die Dekors, legen Zeugnis ab von dieser verbreiteten ästhetischen Erziehung.
Ähnliches gilt für die Musik, die hier kaum mit den großen Apparaten der Oper und der höfischen Repräsentation arbeiten konnte, sondern weithin Kirchen- und Kammermusik war. Das Land, in dem alle fünfzig Kilometer ein Schloss steht, brachte kein Versailles mit allem, was daran hängt, hervor, nicht einmal ein Potsdam, aber Werke, die vor Kirchenbänken oder auf ein paar Brettern aufgeführt wurden: die »Matthäuspassion« und den »Torquato Tasso«. Die Lutherbibel wurde in einer Turmstube fertiggestellt und dann vor hundert Studenten interpretiert. Die Kraft der einzigartigen Produktivität im mitteldeutschen Raum kommt aus der Intimität.
Sie bedeutete nie Provinzialität, weil höfische Kultur, welchen Zuschnitts auch immer, unvermeidlich international vernetzt ist, schon aus ständischen Heiratsgründen. Anhaltinische und sachsen-coburgische Prinzen und Prinzessinnen gelangten auf die Throne Russlands und Englands, Belgiens und Bulgariens und auf viele kleinere.
All das hat Deutschland geerbt, und weil es ein föderalistischer Staat ist, zwei seiner ärmeren Länder, nämlich Sachsen-Anhalt und Thüringen. Und hier zeigt sich, wie problematisch es ist, dass wir zwar eine großstädtisch-elegante Preußen-Nostalgie haben, aber kein rechtes Bewusstsein von den Kerngebieten zwischen Elbe und Thüringer Wald. Auch Dresden war für nationale Anstrengungen, gestützt von den Fernsehanstalten, gut, aber in Weimar konnte eine Bibliothek ausbrennen, weil kein Geld für ein Zwischenlager da war.
Dabei geht es der Weimarer Klassikstiftung noch vergleichsweise gut. Das Wörlitzer Gartenreich ist grotesk unterfinanziert, und in Thüringen musste man nur aus Weimar herausgehen, beispielsweise nach Gotha, um bis gestern eine fast unvorstellbare Verwahrlosung zu finden. In Gotha steht ein Schloss, das 1643 begonnen wurde, und das man als die erste Wiederaufbaukunst nach dem Dreißigjährigen Krieg verstehen kann; ein historisch erstrangig interessanter Ort mit schweren wulstartigen Stukkaturen, die damals von Italienern gefertigt wurden – erste Wiederanknüpfung an den ästhetischen Weltverkehr. Aber wer kennt schon Gotha? Den Roman »Die verlorene Handschrift« von Gustav Freytag, der unter anderem im dortigen Schloss spielt, liest niemand mehr, und die Sozialdemokratie, die sich dort ihr wichtigstes Programm gab, hat andere Sorgen als ihre Traditionspflege. Noch vor fünfzig Jahren freilich, als Thomas Mann über Gotha nach Weimar fuhr, machte er selbstverständlich Halt am Grab von Freytag im Vorort Siebleben, um seines einst berühmten Kollegen zu gedenken.
Thüringen und Anhalt erleiden heute ein Aufmerksamkeitsdefizit, weil sie in ihrer Mitte kein Berlin haben, von dem aus neugierige Großstädter sich mit Literatur unterm Arm in die Dörfer und Residenzen aufmachen. Dabei sind es die kultiviertesten, historisch interessantesten Gebiete Deutschlands, die ihren Fontane schon deshalb nicht gefunden haben, weil über sie viel zu viel zu erzählen gewesen wäre.
Goethes historische Zeit
Rede zum Dank für
den Deutschen Sprachpreis in Weimar
am 30. September 2011
Als Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach am 14. August 1828 in Graditz bei Torgau starb, war sein Sohn, der Erbgroßherzog Carl Friedrich, weder in seiner Nähe noch auch nur in Weimar. Zusammen mit seiner Gemahlin, der Großfürstin Maria Paulowna, besuchte er deren Bruder, den russischen Zaren Nikolaus I., in der Sommerresidenz Pawlowsk unweit von St. Petersburg. Das nun großherzogliche Paar brauchte mehrere Wochen, um heimzukehren, bis Ende Juli. Da war Carl August längst bestattet worden. Bei dem feierlichen Begräbnis des Großherzogs fehlte also nicht nur Goethe, sein engster Freund und Vertrauter, sondern auch der eigene Sohn; weder seine Gemahlin, die Großherzogin Louise, die leidend in Wilhelmsthal weilte, war anwesend noch Prinz Bernhard. Carl August wurde vom Hofadel, den Vertretern der Stände und den Honoratioren des Staates zu Grabe geleitet.
Wie schwer sich Goethe auch mit diesem Tod eines Nächststehenden tat, lässt sich dem fast schneidend knappen Brief entnehmen, den er erst vierzehn Tage nach Carl Augusts Ableben an die verwitwete Großherzogin Louise schrieb – eine Kondolenz mag man das eigentlich nicht nennen: »Schon alle die letzten traurigen Tage her suche ich nach Worten, Ew. Königlichen Hoheit auch aus der Ferne schuldigst aufzuwarten, wo aber sollte der Ausdruck zu finden seyn, die vielfachen Schmerzen zu bezeichnen die mich beängstigen? und wie soll ich wagen, den Antheil auszusprechen zu dem die gegenwärtige Lage Ew. Königlichen Hoheit mich auffordert?« Umso auffälliger ist die zarte Rücksicht, mit der das großherzogliche Haus auf Goethes wohlbekannten Schrecken vor dem Tod und allen Trauerfeierlichkeiten einging. Schon am 3. Juli, wenige Tage vor dem Staatsbegräbnis, erhielt er, wie das Tagebuch festhält, die »Vergünstigung eines Aufenthalts in Dornburg«; am 7. Juli, am Morgen des Tages, an dem die Leiche des Toten feierlich aufgebahrt wurde, reiste Goethe ab.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ihn schon ein Schreiben erreicht, in dem der neue Großherzog und seine Gemahlin ihm, dem Freund des Toten, ihr Beileid aussprechen ließen, wenn auch nicht mit eigener Hand, sondern durch den Generaladjutanten Friedrich August von Beulwitz, den sie mitteilen ließen, »daß mitten in dem eigenen Schmerz der Gedanke an den Eurer Exzellenz Höchst Denenselben vorgeschwebt hat«, und dass nur der Drang des Augenblicks sie davon abgehalten habe, eigenhändig zu schreiben. Ein Fürstenpaar kondoliert dem ältesten Minister des eigenen Landes zum Tod des verstorbenen Monarchen und Vaters, einem Minister wohlgemerkt, der sich dem nun zu begehenden Akt der Staatstrauer mit allerhöchster Erlaubnis entzog – so hatten sich in Weimar in den fünf Jahrzehnten von Goethes Wirken die Rangverhältnisse justiert. Die Abwesenheit Goethes in den Sommermonaten 1828 führte unter anderem auch dazu, dass er an der feierlichen Eidesleistung für den neuen Großherzog am 12. August in Weimar nicht teilnahm.
Die Ungeheuerlichkeit der Flucht auf die Dornburg hat Albrecht Schöne in einem der bedeutendsten Texte, die je über Goethe geschrieben wurden, ans Licht gehoben. Dass der Brief, den Goethe drei Tage nach seiner Ankunft auf dieser »Felsenburg« (so Goethe an Knebel) an Zelter schrieb – ihr gilt Schönes Abhandlung –, gleichwohl eine der »großen Antworten des Menschen auf die menschliche Sterblichkeit« ist, hat dessen Auslegung unwiderleglich zur Anschauung gebracht.
Ähnliches könnte man von dem langen Schreiben sagen, mit dem Goethe wenige Tage nach seinem ersten Dornburger Brief an Zelter dem Kammerherren von Beulwitz, also eigentlich dem neuen Großherzog Carl Friedrich und seiner Frau Maria Paulowna, antwortete. Auch dieser Brief – Goethe schrieb und feilte vier Tage an ihm, vom 14. bis zum 18. Juli 1828 – ist keine Kondolenz. Er ist vieles in einem, zeremoniöses Huldigungsschreiben, Lebensresümee und Ermahnung, nicht zuletzt kann er als Goethes politisches