Zombies in Hannover. Oliver Rieche
Bestie. Eine fleischgewordene Metapher für Entfremdung in der Gesellschaft. Ich bin der Johnny Rotten der Horrorwelt. Ich taste an dem Loch in meiner Schädeldecke, auf der Suche nach Antworten. Wenn es eine Stadt in Deutschland gibt, in der man abends zu Bett geht und morgens als Zombie aufwacht, dann ist das Hannover. Das ist mir schnell klar, aber wo und vor allem WIE habe ich mir den Scheiß eingefangen? Ich prokel den kuppenlosen Zeigefinger tiefer in die Schädelöffnung und wühle mich durch meine verotteten Hirnwindungen. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist: Ich war feiern im Béi Chéz Heinz, einem Club hier in der Ecke. Das Letzte, was ich vor meinem betrunkenen geistigen Auge sehe: Ich stehe mit dieser wunderschönen Frau am Tresen! Wir sind elektrisiert, im Alkoholrausch der Gefühle. Ich ordere zwei Kümmerlinge. Dann küssen wir uns, wild und leidenschaftlich! Das ist meine finale Erinnerung. Die letzte Gedankeninsel im dunklen Ozean der likörgeschwängerten Nacht. Danach ist alles verschwommen. Kein Gedankengang mehr. Nur ein Gedankenschwank. Ein Torkeln durchs Limbische System.
Okay, erst mal sammeln. Die Augen aus dem Schlaf wischen. Die Ohren tunen. Ich liege im Bett. In meinem Bett. Es ist untotenstill. Vom anderen Ende des Flurs dringen schmatzende Gesprächsfetzen in mein Zimmer. Klingt nach meinen Mitbewohnern, nach Jones und Ira. Wir leben jetzt seit einem Jahr in der Dreier-WG, Kötnerholzweg, direkt am Schmuckplatz, den wir hier nur Schmucki rufen. Beste Lage in Linden, dem unaufgeregtesten Stadtteil der Welt, oder zumindest Hannovers. Ein in sich geschlossener Mikrokosmos blühender Charakterlandschaften. Hier darf man noch sein, wer man sein möchte. Der Designer ist ein Arbeitsloser und der Arbeitslose ist ein Alki und der Alki ist ein Lebenskünstler. Und der Lebenskünstler designt sein Leben. Wenn jemand auf die Idee kommt zu gentrifizieren, kriegt er aufs Maul. Hier wird Oma die Handtasche nicht geklaut, sondern über die Straße getragen. Das Lokalkolorit ist ein bunter Regenbogen.
Doch der Himmel ist schwarz an diesem Morgen. Rauchschwaden ziehen durch die Häuserschluchten. Der Geruch von verbranntem Plastik liegt giftig in der Luft. Flammen fressen sich durch den Dachstuhl des Hauses gegenüber. Ich ziehe die Gardine wieder zu.
Mein Zimmer ist völlig demoliert. Auch wenn es sehr praktisch eingerichtet ist (Jones nennt es japanisch), hat es letzte Nacht offenbar doch für ein ausgewachsenes Chaos gereicht. Mein Skateboard steckt im Blutplasma-Fernseher, die Lavalampe ist geschmolzen und am Griffbrett meiner Gibson steckt eine Fingerkuppe zwischen den Saiten. Memo an mich selbst: Untot keine Songs von Millencolin spielen!
Ich schlage die mit Blut getränkte Bettdecke auf und finde neben mir eine Kettensäge. What the fuck, eine Kettensäge? Vorsichtig gehe ich auf den Flur hinaus. Die Dielen knatschen. Meine zertrümmerten Beine lassen nur einen schwerfälligen, schlurfenden Gang zu. Bei mir denk ich, okay, wäre das mal geklärt mit den physischen Fähigkeiten der Zombies. Danny Boyle hatte seine Untoten in ›28 Days Later‹ so schnell laufen lassen wie Usain Bolt auf Epo, was für eine Kontroverse unter Zombie-Nerds sorgte. George Romero hatte also recht mit seinen phlegmatischen Leichen. Auf der anderen Seite gewinne ich in diesem Zustand jeden Wettlauf gegen die Zeit. Das untote Leben ist also gerecht. Ich schleppe mich Richtung Küche und höre aus einem Fleischsalat an schmatzenden und grunzenden Lauten, immer deutlicher die Stimmen meiner Wohnungsgenossen heraus.
Vor dem Wandspiegel an der Garderobe mache ich einen Stylecheck. Ich sehe echt scheiße aus, aber da geht noch was. Wenn schon Zombie, dann richtig splatter! Nie wieder werde ich die beiden so geil schocken! Ich zuppel mir ein paar Hirnstränge aus der Schädeldecke und übe mich in einer furchteinflößenden Grimasse. Ich klemme die Oberlippe hinter die Zähne und zupfe mir die Augenbrauen aus. Noch die richtige Körperhaltung, den einen Fuß hinterher gezogen, Arm hinter dem Rücken verdreht, Kopf leicht schräg in den Nacken. Perfekt! Ein Zombie wie aus einem Kaufhauskatalog.
Ich strecke meine Hackfresse durch den Türschlitz und mache BUH! In der Essecke sitzen, ziemlich unbeeindruckt, Jones und Ira am Küchentisch. Sie löffeln eine Schale mit Gedärmen, unterbrechen ihr Gespräch kurz, schauen mich aus leeren Augenhöhlen an und brabbeln weiter.
»Ira, möchtest du Milch in deine Gedärme?« Jones hält ihr den Tetra Pak hin.
Ich nehme mir einen Stuhl, schiebe ihn an den Tisch und setze mich zu meinen Zombiemitbewohnern. Ich beobachte sie einen Moment, in dem sie sich an den Eingeweiden delektieren, dann setze ich an: »Leute, ich darf festhalten, wir sind Zombies!«
Jones schmeißt mit einem langen Stöhnen seinen Löffel in die Schüssel. »Ja, und wem haben wir das zu verdanken?« Er schaut mich fordernd an.
»Ich habe keine Ahnung«, sage ich. »Ich weiß nur, ich hab einen wahnsinns Schädel, weil ich mir einen reingestellt habe.«
Jones räuspert sich und würgt ein Fellknäuel hervor. Ich tippe auf Nachbars Katze als Vorspeise. »Dann will ich dich mal aufklären, lieber Basti!« Er grinst mich verkniffen an. »Als du am Donnerstagabend nach Hause gekommen bist, heute haben wir« – und das betont er – »Montag … warst du – lass es mich so formulieren – ziemlich kaputt drauf! Ira und ich saßen im Wohnzimmer auf den Yoga-Matten und machten unsere fünf Tibeter, als es an der Haustür bollerte. Ich wollte grad aufmachen, als es krachte und die Tür aus den Angeln flog.« Jones überliefert folgenden Dialog aus jener dunklen Nacht:
Jones: »Alter Basti, bist du das?«
Ich: »Hallo!«
Jones: »Haste deinen Schlüssel vergessen?«
Ich: »Ja.«
Jones: »Alter, falls du deinen Schlüssel suchst, der Schlüsselbund steckt in deiner Stirn!«
Ich: »Oh, sorry …«
Jones: »Sag mal, warum redest du so schräg?«
Ich: »Uaaaarg!«
Jones: »Wie meinst’n das?«
Ich versuche, mich zu erklären. »Dinge wie ›uaaarg‹ sage ich eigentlich nur, wenn ich zu viel dunklen Schnaps hatte!«
Jetzt klinkt sich auch Ira in die Story ein. »Soweit richtig, Basti-Spasti!« Ira kann herrlich politisch inkorrekt sein, wenn sie sauer auf jemanden ist. »Wir waren auch nicht verwundert über deine Ausdrucksweise, es war eher die Art, wie du es gesagt hast. Ich dachte noch, du bist anders degeneriert als sonst, und dann bist du schon auf uns losgegangen! Hier! Guck ma! Da haste mich gebissen!« Sie zeigt mir die klaffende Wunde am Handgelenk. Sieht echt übel aus.
Jones erzählt weiter: »Ich bin dann runter in den Keller und habe die Kettensäge geholt, um dich in Schach zu halten. Was auch zunächst ganz gut funzte, aber dann hast du mich auch erwischt.«
Ich hake nach: »Warum hast du ’ne Kettensäge im Keller?« Ich frage das vorwurfsvoll, als würde ich ihm eine Mitschuld daran geben, dass sein linker Unterarm fehlt. Auch noch der gute Linke, denke ich, den er sich erst kürzlich für viel Geld hatte tätowieren lassen.
»Warum ich eine Kettensäge im Keller habe? Natürlich für den Fall, dass mein Mitbewohner zum Zombie mutiert!« Jones grinst sardonisch, »Und ich verfluche die scharfen Waffengesetze in unserem Land! Hätte ich ’ne Pumpgun gehabt, hätte ich meinen Arm noch!«
»Unterarm!«, korrigiere ich ihn. Jones greift mit dem Armstumpf nach der Kaffeetasse. Sie fällt vom Tisch. Mit spitzen Lippen fährt er fort: »Auf jeden Fall hast du mir die Kettensäge aus der Hand gerissen und bist mit den Worten ›Das ist keine Umgangsform unter Freunden‹ ins Bett gegangen.« Jones schließt im marinierten Tonfall: »Und jetzt kommt der beste Teil der Geschichte: Seitdem haben wir uns in Zombies verwandelt. Aber nicht nur wir, sondern das ganze gottverdammte Linden da draußen!«
Ich bin baff. Was soll ich sagen? Wie entschuldigt man sich bei seinen Freunden, wenn man sie gebissen und in Zombies verwandelt hat? Ich stottere: »Äh, ich … ich hol uns mal ’n Bier?«
Während ich die Küche verlasse, ruft mir Jones hinterher: »Das ist auch das Mindeste, das du für uns tun kannst, du Sack! Ach so, und für mich ’n Herri bitte, ja!«
Meanwhile
Düster