Wie man glücklich wird und dabei die Welt rettet. Holger Dr. phil. Wohlfahrt
Freude des Unterwegsseins mit dem Dopamin erklären. Wer immer wieder ein klares Ziel vor Augen hat, sich von diesem antreiben lässt, sich vorstellt, wie schön seine Verwirklichung ist, schüttet Dopamin aus. Bei kurzfristigen, leicht umzusetzenden Zielen erschöpft sich dieses Phänomen allerdings schnell. Einem punktuellen Gefühlshoch folgt dann eine innere Leere, die möglichst schnell ein neues Hoch erleben will. Um jedoch das gleiche Gefühl wieder zu haben, muss in der Regel schon bald die Dosis erhöht werden. Eine fremdbestimmte und letztlich auch hilflose Abhängigkeit entsteht.
Über ein großes, hinter allen kleinen Alltagszielen stehendes Meta-Ziel lässt sich hingegen innerhalb eines konstanten Rahmens immer wieder Vorfreude generieren. Die ernüchternde Leere und der Wunsch nach mehr, die sich bei jeder Zielerfüllung irgendwann einstellen, bleiben hingegen aus. Natürlich sollte es dennoch zumindest theoretisch im Bereich des Möglichen liegen, das Ziel in ferner Zukunft zu erreichen. Auch kleine Zwischenerfolge sollten auf dem schier endlosen Weg durchaus gefeiert werden. Andernfalls nützt sich der Effekt ab. Irgendwann würde sonst der Glaube an die Erreichbarkeit verloren gehen und Ernüchterung würde die motivierende Vorfreude ablösen.
Zweifelsohne stellte es einst einen Überlebensvorteil dar, dass die Gattung Homo Sapiens in einem evolutionären Urzustand nachgerade Glücksgefühle empfand, wenn sie sich auf den Weg hin zu neuen und besseren Anbau- und Jagdplätzen machte. Heute wird allzu oft vergessen, dass der Mensch in seiner Geschichte überwiegend ein Nomade war. Die Aussicht auf ein sichereres und besseres Überleben dürfte ihn über Jahrtausende angetrieben haben und vielleicht auch ein Grund dafür sein, dass es ihm im Laufe der Evolution gelang, die grausame Herrschaft über die Welt und ihre anderen Bewohner zu erlangen. Das ständige Weiterziehen, das niemals definitive Ankommen kann somit gewissermaßen als Menschheits-Sinn betrachtet werden.
Tatsächlich leitet sich auch das Wort „Sinn“ vom althochdeutschen „sinnan“ ab, was etwa mit „reisen“ oder auch „streben nach“ übersetzt werden kann. Wer sich Sinn gibt, ist also – dem Wortsinn nach – unterwegs. Er reist seinem individuellen Ziel entgegen. Das Ankommen kann den Sinn geradezu zerstören. So verwundert es nicht, dass viele Menschen, die nichts als materiellen Wohlstand erstreben, im Moment ihres „Ankommens“, den erlangten Reichtum als sinn-entleert empfinden. Besonders häufig ist dieses Phänomen wenn der Reichtum unabhängig von einer zielorientierten Tätigkeit gewonnen wird – zum Beispiel durch eine Erbschaft oder einen Lottogewinn. Bertrand Russell erklärte dieses Phänomen folgendermaßen: „Das menschliche Tier ist gleich anderen Tieren auf ein gewisses Maß von Daseinskampf eingerichtet, und wenn jemand so reich ist, dass er all seinen Launen mühelos nachgeben kann, beraubt ihn das bloße Fehlen jeder Anstrengung eines wesentlichen Glückselements.“
Der Prototyp des irgendwie angekommenen, aber umso unglücklicheren Menschen, der sich verzweifelt in wilde, aber letztlich existentiell öde Partys mit Seinesgleichen stürzt oder eine leere Sinnsuche beginnt, ist nicht umsonst wiederkehrendes Thema in Film und Literatur von Orson Welles „Citizen Kane“ über Federico Fellinis „La Dolce Vita“ bis zu Paolo Sorrentinos „La Grande Bellezza“, von Apuleius „Goldenem Esel“ über Georg Büchners „Leonce und Lena“ bis hin zu Scott F. Fitzgeralds „Großem Gatsby“.
Besonders drastisch wird die negative Begleiterscheinung des Ankommens in den mittelalterlichen Artus-Sagen dargestellt. Das Gefühl des vorschnellen Angekommen-Seins wird dort zur Lebensgefahr. Zahllose Ritter reiten voller Tatendrang in britannische Wälder. Sie wollen und sollen Drachen jagen oder Jungfrauen befreien. Doch nur allzu oft werden sie im Wald von einer Maid abgefangen, die ihnen einredet, bereits am Ziel zu sein. Sobald ihr ein Ritter Glauben schenkt, vom Pferde steigt, sich zu ihr begibt und freudig am Ziel wähnt, schläft er in ihren Armen ein und wacht nie wieder auf. Nur wer sich der vorschnellen Ankunft verweigert, wer weiter einem fernen Ziel entgegenreitet, kann weiterleben. Alle anderen sterben einen sanften Tod.
Wie realistisch die mythischen Sagen in dieser Hinsicht sind, beweist eine im Jahr 2009 veröffentlichte Studie von Medizinern der Rush University in Chicago. Darin wurden 1238 ältere Leute aus dem Großraum Chicago untersucht. Diejenigen, die keine Lebensziele mehr benennen konnten, hatten in den folgenden fünf Jahren ein doppelt so hohes Risiko zu sterben. Ihnen fehlten Lebensfreude und Antrieb. Der sanfte Tod der mythischen Artus-Ritter wurde bei jenen Senioren aus Chicago zur Realität.
Dass Ziele für ein glückliches Leben unerlässlich sind, wurde zeitlebens auch von dem Begründer der Logotherapie, dem Psychiater und Neurologen Victor Frankl (1905-1997), Überlebender des KZ Auschwitz, thematisiert. Er hat jenen eindrücklichen Satz geprägt: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“3 Wer also ein individuelles Ziel und eine daran orientierte Aufgabe hat, der erträgt auch jede Widrigkeit des Lebens. Nichts und niemand kann die zentrale Motivation des eigenen Tuns überlagern.
Sisyphos hatte sein Warum gefunden. Es bestand darin, den Stein immer und immer wieder auf den Berg zu rollen. Die Ritter der Artus-Sage hatten ihre Abenteuer zu bewältigen. Jede vorschnelle Ankunft galt es dabei zu vermeiden, wollten sie (emotional) überleben und nicht in einen ewigen Schlaf entschlummern, der symbolisch für die Leere der Sinnlosigkeit steht.
Victor Frankl schließlich meinte, dass er die unvorstellbaren Grauen des KZs nur überleben konnte, weil er eine sich selbst gegebene Aufgabe hatte, der er alles unterordnete. Für ihn hatte diese Aufgabe darin bestanden, die Auswirkungen der inhumanen Bedingungen auf die Mitmenschen zu analysieren. Er sah es als Ziel an, eines Tages Vorträge über die Auswirkung des Lagers auf die Psyche der Menschen zu halten. Er wollte, dass die Menschheit durch ihn aus dem Schlimmen lernen konnte. Das gab ihm Sinn und Orientierung. Es hielt ihn am Leben.
Sinn im Leben macht also widerstandsfähiger und scheint automatisch etwas mit sich zu bringen, was man als latentes Glücksempfinden bezeichnen könnte. Der Philosoph Wilhelm Schmid (geb. 1953) meint denn auch: „Die im frühen 21. Jahrhundert aufbrechende Frage nach dem Glück [ist] eigentlich die Frage nach dem Sinn.“ Wer einen Sinn im Leben sieht, kommt auch mit negativen Aspekten besser zurecht. Sie stellen keine existentiellen Bedrohungen mehr, sondern höchstes unangenehme Stolpersteine auf dem individuellen Weg dar. Wem es gelingt, klare und wahrhafte Ziele zu definieren und sich von ihnen leiten zu lassen, der wird sich nicht in existentieller Leere verlieren.
Die moderne Sinn-Leere
Vielleicht kommt man damit auch schon dem Rätsel auf die Spur, warum gerade in der hochentwickelten, satten und vor äußerlichen Gefahren vergleichsweise sicheren Welt des Westens die Zahl der Depressionen ins Unermessliche zu steigen scheint. Wenn alle wesentlichen Bedürfnisse gedeckt sind, keine wahrhaften Herausforderungen mehr erkannt werden, fällt es vielen schwer, klare und tragende Ziele zu definieren.
Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow (1908-1970) verdeutlicht diesen Sachverhalt anhand eines Modells. Es ist das berühmte Modell der Bedürfnispyramide. Demnach haben Menschen zunächst das besonders ausgeprägte Bedürfnis, die notwendigsten Grundlagen ihres Lebens abzudecken. Hierzu gehören Schlaf, Essen und Trinken. Ist diese Bedürfnisebene nachhaltig gedeckt, will die nächste Bedürfnisstufe erreicht werden. Der Mensch strebt auf dieser zweiten Stufe nach Geborgenheit und einer Grundsicherheit (vor wahrhaft lebensbedrohender Gefahr). Sind auch diese Bedürfnisse gedeckt, stellen sich soziale Bedürfnisse ein wie Freundschaften und Zugehörigkeitsgefühle. Auf der nächsten, der vierten Stufe, strebt der Mensch nach Anerkennung und Status. Hat er schließlich auch diese Bedürfnisse abgedeckt, möchte er sich auf der letzten Stufe selbst verwirklichen.
Natürlich ist es auf eine unmittelbare Art leichter und zugleich erfüllender, die notwendigen Grundbedürfnisse der ersten Stufen jener Pyramide abzudecken. Diese sind konkret. Wer Hunger hat und sein mühsam verdientes Abendbrot genießen kann, hat ein direktes und wohl begründetes Glücksempfinden. Wenn es schwer ist, an Nahrung zu kommen, wird dessen Beschaffung zum großen, immer wieder antreibenden Lebensziel. Wenn Lebensmittel hingegen in grandiosem Überfluss vorhanden sind und einen selbstverständlichen Teil der Lebenswirklichkeit darstellen, ist ihre Beschaffung banal und kann kein großes, tragfähiges Ziel mehr darstellen.
Viele Menschen der westlichen Moderne haben nun aber alle wesentlichen Bedürfnisse abgedeckt. Es bleibt einzig