Kappe und die verkohlte Leiche. Horst Bosetzky

Kappe und die verkohlte Leiche - Horst Bosetzky


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glücklich mussten die Männer sein, die so ein Weib besaßen! Klein und unscheinbar kam er sich da vor, und am meisterten schüchterte ihn die Berolina ein, deren Standbild nun schon seit fünfzehn Jahren den Alexanderplatz beherrschte. «Frau Bürgermeisterin» hatte der Volkswitz sie getauft. Ihre ausgestreckte linke Hand gab den Berlinern Anlass zu mancherlei spöttischen Betrachtungen. Während die einen meinten, die Berolina strecke die Hand nach neuen Steuern aus, fanden die anderen, sie weise den Besuchern der benachbarten städtischen Wärmehalle den Weg zur «Palme», dem Asyl für Obdachlose.

      Kappe hielt es fast für ein Wunder, dass er den Stadtbahnhof erreichte, ohne überfahren oder wenigstens umgerannt worden zu sein. Sicherlich war es kein Abenteuer für ihn, mit der Eisenbahn zu fahren, das kannte er von Wendisch Rietz und Storkow her, aber ein wenig Höhenangst überkam ihn doch, wenn es über die Viaduktbögen ging. Wenn da mal ein Zug entgleiste. .. Erst zwei Jahre war es her, dass es am Gleisdreieck ein Zugunglück mit achtzehn Toten gegeben hatte. Nun gut, das war die Hoch- und nicht die Eisenbahn gewesen, aber dennoch. ..

      Anderes beschäftigte ihn jedoch mehr, als er auf dem verqualmten Bahnsteig stand und auf den nächsten Zug Richtung Charlottenburg wartete: die Suche nach dem Mann, der versucht hatte, ihn zu erschießen. In Gesprächen mit seinen Freunden nannte er ihn stets seinen Mörder. Auch ein Vierteljahr nach der Tat hatte man seiner noch nicht habhaft werden können. Was auch daran liegen mochte, dass er so aussah wie Hunderttausende anderer Männer auch. Das schlechte Licht und ein tief über das Gesicht gezogener Hut hatten verhindert, in seinem Gesicht besondere Merkmale zu entdecken. «Vielleicht wie ein Baby mit Bart», hatte Kappe gesagt. «Sehr weiche Züge also.» Alter: Mitte dreißig, Figur: eher schlank. Der Major meinte, von der Sprache her könne es nur ein Berliner gewesen sein. Und da man davon ausgehen konnte, dass der Verbrecher in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, hielt Kappe Tag für Tag die Augen offen. Das Argument von der Nadel im Heuhaufen schreckte ihn nicht. Es galt nur, an der richtigen Stelle hineinzugreifen.

      Der Zug kam in den Bahnhof gerollt und hielt mit quietschenden Bremsen. Die Abteiltüren wurden aufgerissen und krachten gegen ihre Anschläge. Kappe zuckte zusammen. So viel Lärm hatte es in Wendisch Rietz nicht einmal Silvester gegeben. Er lief die Waggons entlang und suchte nach einem freien Platz. In der dritten Klasse schien alles besetzt zu sein. Schon wurde «Zurückbleiben!» geschrien und wie wild gepfiffen, da schwang er sich aufs Trittbrett und enterte ein Abteil, in dem vier Herren und eine Dame saßen. Die Herren lasen allesamt den Berliner Lokal-Anzeiger, die Dame blickte pikiert. «Pardon», murmelte er denn auch, als er sich in die Lücke quetschte, die zwischen ihr und einem besonders dicken Mitreisenden verblieben war. Anders als in Storkow war es hier üblich, sich zu ignorieren. Der Zug setzte sich ruckend in Bewegung. Die Auspuffschläge der Lok ließen ihn um sein Gehör fürchten.

      Kappe nahm die Fahrt als Stadtbesichtigung. Er saß in Fahrtrichtung. Der erste Bahnhof hieß Börse, was er noch immer komisch fand. Wie Geldbörse. Immerhin wusste er schon, dass das Gotteshaus am Vorplatz die Garnisonkirche war. Folgten die Museumsinsel und die Universität. Bahnhof Friedrichstraße. Kappe staunte über die Menschenmenge, die sich hier versammelt hatte. Viele kamen nicht mit und schimpften fürchterlich. Der Zug war derart überfüllt, dass er Angst hatte, die Brücke über die Spree würde unter ihrer Last zusammenbrechen und sie allesamt würden in den Fluss stürzen und ertrinken. Gott sei Dank, alles war stabil genug. Als sie am Reichstag vorbeifuhren, ergriff ihn so etwas wie ein heiliger Schauder. Hier hatte Bismarck gestanden und geredet. Lange konnte er sich diesen hehren Gefühlen nicht hingeben, denn nun ging es über den Humboldt-Hafen hinweg. Er atmete auf, als sie im Lehrter Stadtbahnhof hielten und sozusagen wieder Boden unter den Füßen hatten.

      Dann kam Bellevue. Fast hätte Kappe das Aussteigen vergessen. Als er das Bahnhofsgebäude verlassen hatte, sah er sich erst einmal so hilflos um, wie es für einen Kriminalwachtmeister eigentlich beschämend war. In dieser Gegend war er noch nie gewesen, und er musste sich erst anhand der Sonne orientieren, wo denn Süden, Norden, Osten und Westen lagen. Moabit, das hatte er sich vorhin auf dem Stadtplan eingeprägt, musste im Nordwesten liegen, aber die Straße, auf der er stand, führte nach Nordosten. Jemanden nach dem Weg zu fragen widerstrebte ihm. Also ging er erst einmal Richtung Westen. Ein Schild verriet ihm, dass er sich auf der Flensburger Straße befand. Die war sehr schön, hatte aber den Nachteil, dass sie sozusagen im Nichts endete, das heißt am Ufer der Spree. Kappe wandte sich instinktiv nach rechts und kam zur Lessingbrücke und zur Stromstraße. Die grauen Wasser der Spree erinnerten ihn ein wenig an den Storkower Kanal, und er fragte sich, ob es hier in der Stadt noch Fische gab. Die Stromstraße fuhr eine Straßenbahn entlang, die ihn hoffen ließ, dass auf ihrem Zielschild der Name «Moabit» stehen würde, doch es war die Linie 3, und da hieß es nur «Großer Ring». Pech gehabt. Dann aber konnte er aufatmen, denn der breite Straßenzug, auf den er als Nächstes stieß, trug den Namen Alt-Moabit. Jetzt konnte er sich auch wieder daran erinnern, was er sich im Bureau eingeprägt hatte: Alt-Moabit, Thurm-, Bredow-, Wiclefstraße. Eine Viertelstunde später stand er auf dem Kohlenplatz von Gottfried Kockanz. Nirgends eine Menschenseele.

      «Ist hier niemand?», rief Kappe. Keine Antwort. Komisch. Wahrscheinlich streikten die Arbeiter auch hier. Nein, dann würde es einen Streikposten geben. Er schaute auf den Boden. Da fanden sich im schwarzgrauen Staub genügend Fußspuren. Er beugte sich etwas nach unten. Die Ränder waren noch ziemlich scharfkantig, also mussten es frische Spuren sein. Er wiederholte seine Frage, diesmal noch um einiges lauter. «Hallo, ist hier wer?» Wieder blieb das Echo aus. Gewarnt durch das, was in Storkow geschehen war, ging Kappe vorsichtig auf die Baracke zu. Diesmal hatte er kein Emailleschild in der Brusttasche stecken.

      Die Tür des Toilettenhäuschens in der hinteren rechten Ecke des Platzes wurde geräuschvoll aufgestoßen, und Kappe sah einen Mann herauskommen, der ganz offensichtlich nicht der Besitzer des Platzes war, sondern ein Kohlenträger. Er stutzte, denn von irgendwoher kannte er den Mann. Nein, nicht aus Storkow, sondern. .. Er kam nicht darauf. Sein Gedächtnis für Namen und Gesichter war nicht eben gut. Pech für einen Kriminalbeamten.

      «Sie arbeiten hier?», fragte er den Mann. Nicht eben intelligent, aber irgendwie musste das Gespräch ja eröffnet werden.

      «Ja», kam es lakonisch zurück.

      «Und heißen?»

      «Sie müssten mir doch kennen.»

      Kappe wollte seine Autorität nicht in Frage stellen lassen und versuchte es mit einem kleinen Wortspiel. «Wenn Sie mir nicht richtig antworten, werden Sie mich mal kennenlernen.»

      «Tilkowski, Paul Tilkowski. Wir hatten schon mal die Ehre. Die Schlägerei vor Kroll. Da haben Sie mir verhaftet.»

      «Ah ja, richtig.» Endlich konnte sich Kappe erinnern. «Und jetzt soll hier auf dem Kohlenplatz eingebrochen worden sein?»

      «Ja, kommen Se, ick zeige Ihnen allet mal.»

      «Sehr schön, ja. ..» Während er dem Kohlenarbeiter folgte, zog Kappe eine kleine Bleistiftzeichnung aus der Tasche, die ein Freund nach seinen Angaben angefertigt hatte. Sie zeigte das Gesicht des Mannes, der in Storkow auf ihn geschossen hatte. «Hier.» Er hielt Tilkowski die Zeichnung hin. «Sie kennen sich doch da aus. ..» Damit meinte er das Verbrechermilieu und die Gefängnisse und Zuchthäuser. «Ist Ihnen dieser Herr schon mal begegnet?»

      Tilkowski nahm das Porträt und studierte es sorgfältig. «Ja, könnte sein.»

      Kappes Herz machte einen gewaltigen Satz. «Wenn es Ihnen einfallen sollte, dann. ..» Er wusste, dass man mit Ganoven durchaus Geschäfte machen konnte. Halfen sie einem, einen Hai zur Strecke zu bringen, konnte man ihnen auch mal die kleinen Fische lassen.

      Gottfried Kockanz kam aus seinem Kontor und blinzelte in die Sonne, deren Licht so weich war, wie es sich für einen Altweibersommer gehörte. In einem Nebenraum hatte er ein Sofa stehen, das er gern für ein Mittagsschläfchen nutzte. Er hinkte etwas und hätte eigentlich einen Stock gebraucht, scheute sich aber, einen zu kaufen, weil er Angst hatte, dadurch großväterlich zu wirken. Die meisten Leute dachten automatisch, er habe im Krieg 1870 / 71 eine Verletzung davongetragen, doch wenn sie dann rechneten, kamen sie schnell dahinter, dass das unmöglich war. «Der kann doch nich als Dreijähriger Soldat jewesen sein.» Da man in Preußen


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