Nach Verdun. Jan Eik
bedachte, die vielleicht nicht mehr verlangte, als von der minderwertigen Ware wenigstens die korrekte Menge zu bekommen.
Thea war einfach zu weich. Sie fiel auf jedes mitleidheischende Gesülze der Weiber herein, die mit Engelszungen um ein paar Gramm oder ums Anschreiben feilschten, während sie vom Mann an der Front und von den hungrigen Kindern zu Hause schwafelten. Bohrte man ein wenig tiefer, wie es Erichs Art war, so stellte sich heraus, dass es sich der Ehegemahl in der belgischen Etappe wohl ergehen ließ und die Kinder sich bei der Großmutter auf dem Lande erholten.
Nein, ihm machte keiner was vor. Die Weiber nicht und die Kerle schon gar nicht, die Thea wie die Schellfische anglotzten, als wäre sie nicht in die Jahre gekommen und nicht so fett, wie sie nun einmal war. Am liebsten bediente Erich deshalb selber im Laden. Dann hatte alles seine Ordnung. Ein anerkennendes Lächeln hatte er allenfalls für die echten Kriegsverletzten übrig, von denen es in der Gegend schon einige gab. Arme Kerle! Was sich da vor Verdun und Douaumont tat, war gewiss nicht von Pappe, auch wenn die Berichte in der Kreuz-Zeitung knapp ausfielen. Am Ende würde der liebe Gott schon wissen, wem er den Sieg zusprach. Dann galt die stolze Aufschrift Kolonialwaren über der Ladenfront endlich wieder mit Fug und Recht!
Die ältere der beiden Frauen hatte sich zu einem Glas Rübenmarmelade entschlossen. Erich kannte die Leupolten und wusste, weshalb sie so lange gezögert hatte: weil sie hoffte, von Thea bedient zu werden.
Die andere dagegen, eigentlich noch im besten Alter für eine Frau, mickerte in den letzten Jahren mehr und mehr dahin, als bekäme ihr der Krieg nicht. Dabei kannte Erich Röddelin die Wahrheit so gut wie jeder andere Mensch im Umkreis von dreihundert Metern um die Mietskaserne in Alt-Boxhagen, in der sie wohnte: Sie hatte sich in der Kriegsbegeisterung der ersten Augusttage von ihrem Galan ein Kind anhängen lassen, ein pergamenthäutiges, ewig kränkelndes und greinendes Gör, das seinen ersten Winter nicht überlebt hatte. Seitdem schlich die Mutter wie ein schwarzer Strich durch die Landschaft, mit böse verzogenem Gesicht, als wären andere Leute an ihrem Unglück schuld. Es hieß, sie würde neuerdings bei der Eisenbahn arbeiten.
Kaum hatte die Leupolt die Groschen für die Marmelade aus ihrer zerschlissenen Geldbörse gefischt und einzeln vor Röddelin hingezählt, da klingelte die Ladenglocke, und gleichzeitig tauchte Theas nicht zu übersehende Masse in der Tür zum dunklen Hinterzimmer auf. «Nahmd, Frau Leupolt», grüßte sie leutselig, und die Leupolten hätte anscheinend am liebsten einen Hofknicks gemacht. Half ihr aber nichts mehr, denn Erich war schon um den Ladentisch herum getreten und schob das alte Weiblein sanft in Richtung Ladentür. Dabei erst fiel ihm auf, dass die andere, die jüngere Kundin spurlos verschwunden war.
«Machst du endlich Feierabend?», keuchte Thea.
«Nee», antwortete Erich gallig. «Vielleicht kommt ja noch deine Freundin, die Schlächtermamsell, und versucht, dich anzupumpen!»
Er wusste sehr wohl, von wem Thea die Wurstzipfel bezog, die sie heimlich im Bett kaute, im Glauben, er merke es nicht.
Statt einer weiteren Entgegnung schrie Thea plötzlich auf, als wäre ihr eine Ratte über den Fuß gelaufen. Schreckensbleich wies sie auf das Schaufenster. Von außen drückte jemand seine Visage gegen das Glas.
«Der schon wieder!», grollte Röddelin grimmig und hob drohend die Faust in Richtung Fenster. Doch schon tauchte das Gesicht, das sich zu einem diabolischen Grinsen verzerrte, ins Dunkel der Straße zurück.
Erich atmete auf. Ein Glück, dass der Kerl nicht in den Laden gekommen war, um auf seine übliche Weise zu stänkern! Einmal hatte ihm Erich mit den Blauen gedroht, und der Kerl hatte unter höhnischem Lachen den Laden verlassen, nicht ohne dabei absichtsvoll einen Sack mit Erbsen umzustoßen.
Er trat zum Fenster, lockerte den Gurt und ließ die Jalousie herunter. Im Laden war es jetzt beinahe vollständig dunkel. Die sauren Gurken, deren weißer Belag sich kaum noch verbergen ließ, verbreiteten einen so infernalischen Geruch, dass er beschloss, die Ladentür hinter dem Rollladen noch offenzulassen.
Langsam, damit sich die Lüftungsschlitze weit öffneten, ließ er die hölzernen Lamellen nach unten, als er plötzlich einen heftigen Schmerz an seinem Schienbein verspürte und vor Schreck den Gurt fahrenließ. Rasselnd knallte die Jalousie auf die Türschwelle. Jemand hatte genau den Augenblick, da er den Rollladen herabließ, abgepasst, um einen Stein oder einen anderen größeren Gegenstand in den Laden zu werfen und Erich damit zu verletzen. Zorn packte ihn. Doch noch ehe er jenes ominöse Wurfgeschoss zu ertasten vermochte, tat sich vor ihm ein krachender Feuerschlund auf, der den Laden in ein blutrotes Licht tauchte. Das war das Letzte, was Erich Röddelin wahrnahm.
DREI
HERMANN KAPPE schlief in der Sekunde, in der Erich Röddelin getötet wurde, tief und fest. Nicht etwa zu Hause, sondern im Büro, den Kopf auf die Schreibtischplatte gebettet. Er konnte sich das erlauben, denn der Amtsarzt hatte bei ihm eine Art Narkolepsie festgestellt, im Volksmund auch Schlafkrankheit oder Schlummersucht genannt. Am Tage wurde er manchmal derart müde, dass er nicht anders konnte, als fünf bis zehn Minuten zu schlafen.
Dieses Leiden war ein großes Glück für Kappe, denn es verhinderte, dass man ihn zum Soldaten machte und zum Sterben nach Verdun schickte. Seine Vorgesetzten hatten von der Krankheit erst erfahren, als sie ihn Ende 1915 zum Kriminalkommissar beförderten. Wegen seiner hervorragenden Leistungen, die er seit 1910 in der Berliner Polizei erbracht hatte, aber auch, weil andere, die vor ihm an der Reihe gewesen wären, in den Schlachten in der Champagne, bei Ypern, in den Masuren oder bei Ternopil gefallen waren.
Kappe kam aus dem märkischen Wendisch Rietz, und so träumte er jetzt, in einem Angelkahn zu sitzen und über den Scharmützelsee zu rudern. Eine Nixe tauchte neben ihm aus dem Wasser. Sie sah aus wie seine Braut.
«Klara, du?!»
«Ja, ich! Und wenn nicht bald Hochzeit ist, dann ziehe ich dich hinab zu mir in die Tiefe.»
Kappe schrie auf und war im Nu hellwach.
Galgenberg, der gerade eingetreten war, sah ihn fragend an.
«Na, wer hat Sie denn erschossen, Kappe?»
«Niemand, aber Klara ist aus dem See aufgetaucht und hat verlangt, dass ich sie endlich heirate.»
Galgenberg lachte. «Wie sag ick imma: Jenieß den Frühling deines Lebens, / leb im Sommer nich verjebens, /denn sehr bald stehst du im Herbste. / Wenn der Winter kommt, denn sterbste.»
«Erlauben Sie mal!» Kappe schüttelte sich und schlug sich mit den Handflächen gegen die Wangen, um richtig wach zu werden. «Ich bin gerade erst achtundzwanzig Jahre alt geworden …»
«Ja ebent! Wie alt werden wir Männer denn? Keine dreißig, keine zwanzig, wenn wir bei Verdun vor die Hunde gehen. Und sonst …? Fünfundsechzig vielleicht, höchstens siebzig. Da haben Sie also mit achtundzwanzig Jahren schon vierzig Prozent ihres Lebens hinter sich.»
Kappe erschrak. «O Gott, ja. Dann sollte ich wirklich mal langsam vor den Traualtar treten …»
«Wenn nicht, wernse von Ihrer Klara schon getreten werden.»
«In diesen lausigen Zeiten auch noch heiraten und Kinder in die Welt setzen?» Kappe zeigte auf das Berliner Tageblatt, das auf Galgenbergs Schreibtisch ausgebreitet war. «Erst haben sie uns verboten, Kuchen zu backen, solange wir Krieg haben, und jetzt soll es Butter nur noch auf Karten geben.»
«Na, bald gibt’s ja wieder Mückenschwärme», sagte Galgenberg.
Kappe konnte ihm nicht folgen. «Was hat denn das damit zu tun?»
«Ne Menge, denn mein Vater hat immer jesagt: Man sollte nicht denken, wat so ’ne Mücke für’n Fett hat.»
Über dieses Thema ließ sich stundenlang reden. Immer größere Mengen an Fett wurden der Ernährung entzogen, denn die Nachfrage des Militärs nach Glycerin wuchs und wuchs. Man brauchte es für Sprengstoffe. Und die Kanonenrohre und Torpedos mussten mit Schmieröl versorgt werden.
Im Polizeipräsidium am Alexanderplatz war eigentlich schon lange