Ein Sommer in Berlin. Beate Vera
Berlin.
Foto: © plainpicture/Ingrid Michel
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-95552-216-2
Für all die tollen Frauen,
deren Träume platzten
und die etwas Besseres daraus gemacht haben,
und für Jutta L., die weiß, warum
Carpe diem!
Denken Sie nur an all diese Frauen auf der Titanic,
die, als der Dessertwagen vor ihnen stand,
abgewunken haben.
Erma Bombeck
Man kann lieben, ohne glücklich zu sein,
und man kann glücklich sein, ohne zu lieben.
Aber lieben und dabei glücklich sein,
das wäre ein Wunder.
Honoré de Balzac
Ein französisches Sprichwort besagt: Die Liebe besteht aus Dummheiten und Vernunft. Nach dieser Maxime war ich bis dato eine mächtig dusselige Kuh.
»Bis dato« umfasste in erster Linie die vergangenen fünfzehn Jahre, die ich mit Hanno verbracht habe. Hanno Hecht war groß, gut aussehend, hatte stets ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt und immer einen guten Spruch auf den Lippen. Hanno war zwölf Jahre älter als ich. Er hatte früh »mit Literatur Karriere gemacht«, wie er seinen Lebensweg beschrieb – gefragt oder ungefragt. Während seines Germanistikstudiums in den frühen achtziger Jahren hatte Hanno mit dem Verfassen von Arztromanen begonnen. Die waren so gut gelaufen, dass er damit seinen Lebensunterhalt hatte bestreiten wollen. Hanno wechselte dann zu BWL und machte 1986 seinen Abschluss mit summa cum laude. Direkt im Anschluss daran gründete er mit einem Startkapital, das er seinen Eltern verdankte, einen eigenen Verlag, die Mediola Verlags GmbH. Anfang der Neunziger konzipierte er eine überaus erfolgreiche Heftreihe mit dem Titel Der Vollmondrächer – Geschichten um einen Mann Ende vierzig, der sich des Nachts in einen Werwolf verwandelt und Verbrechen und Unrecht bekämpft. Die Serie um den äußerlich unscheinbaren Buchhalter, der im Mondschein zum jugendlich-virilen Kämpfer für Gerechtigkeit wird und dabei sämtliche Frauenherzen erobert, brach alle deutschen Verkaufsrekorde und wurde auch international erfolgreich. Hannos Eltern bekamen ihr Darlehen mit einer ordentlichen Rendite zurück. Noch rund 25 Jahre später war die Mediola unangefochtener Marktführer im Segment Romanheft.
Hanno Hecht haute mich buchstäblich um, als wir uns das erste Mal begegneten. Ich wollte mich gerade in der Schöneberger Buchhandlung, in der ich damals arbeitete, vor dem Regal Fremdsprachliche Titel nach dem Band La Poursuite du bonheur bücken, einem frühen Werk von Michel Houellebecq, als Hanno fast in mich hineinlief. Im Fallen riss ich das installationsartige Buchdisplay von Günter Grass’ neuem Bestseller Mein Jahrhundert um und fand mich, hingestreckt wie ein hilfloser Käfer, in einem Stapel Bücher wieder. Hanno lachte lauthals, bevor er mir betont galant wieder aufhalf. »Aber, aber, meine Liebe, ich habe wohl einen umwerfenden Effekt auf Sie …«
Als er mich anstrahlte, war es schon um mich geschehen – viele Jahre lang glaubte ich fortan an die Liebe auf den ersten Blick. Dass selbiger damals stark getrübt war, war mir leider nicht klar. Mal Hand aufs eigene Herz: Haben Sie etwa noch nie Ihr Lenor-Gewissen ignoriert? Hanno lud mich am selben Abend zum Essen ein und erzählte mir alles von sich. Seine Selbstsicherheit, seine gewandten Umgangsformen, sein teurer Maßanzug und seine Erfolgsgeschichte beeindruckten mich sehr.
Ich war 25 und hatte bis zu jenem Zeitpunkt drei Liebhaber gehabt. Christoph war der erste. Ich war furchtbar jung und furchtbar verliebt. Er trat nach dem Abitur ein Studium in Göttingen an und erledigte diese große Liebe furchtbar schnell. Während meiner Ausbildung zur Buchhändlerin verliebte ich mich dann in Rainer. Rainer war sehr rücksichtsvoll – so rücksichtsvoll, dass es sechs Monate dauerte, bis ich herausfand, dass er auch Verhältnisse mit der Schwester eines Ausbildungskollegen und deren bester Freundin hatte. Kein Wunder, dass ich ihn eher selten zu Gesicht bekommen hatte.
Die folgenden zwei Jahre lang konzentrierte ich mich auf meine Ausbildung und machte einen sehr ordentlichen Abschluss. Es folgten ein Jahr im Ausland und der Beginn eines Studiums der französischen Sprache. Im Laufe des zweiten Semesters änderte ich meine Meinung und trat kurz darauf den Job in Quinns Buchhandlung an. Mein Chef und ich wurden kaum acht Wochen, nachdem er mich eingestellt hatte, ein Paar.
Quinn, eigentlich Quintus Hartmann, als fünftes und letztes Kind seiner promovierten Eltern an einem 5. Mai geboren, war ein echter Bücherwurm. Wir hatten ein paar schöne Jahre, in denen wir viele schöne Bücher lasen, viele schöne Dinge unternahmen und viele schöne Orte sahen. Dann wollte ich mehr. Ich wollte einen Ehemann. Ich wollte Kinder. Quinn wollte das nicht, und die Beziehung fand ein Ende. Unser Arbeitsverhältnis blieb davon nicht unberührt, und ich hatte mich schon eine ganze Weile nach einer neuen Stelle umgesehen, als ich im Grass’schen Jahrhundert landete.
Was soll ich sagen? An dem Abend, als Hanno mich zum Essen ausführte, gingen wir ohne große Umschweife miteinander ins Bett. Hanno war ein versierter Liebhaber, der alles unter Kontrolle hatte. Das genügte mir. Lodernde Leidenschaft, da war ich mir sicher, wurde überbewertet. Ich hängte meinen Job in Quinns Laden an den Nagel. Hanno und ich waren sechs Monate später verheiratet, und es folgten viele Jahre, in denen ich mich glücklich wähnte. 2001 bekamen wir Helene, knapp drei Jahre danach kam Vincent, und weitere drei Jahre später brachte ich Daniel auf die Welt. Wir hatten ein großes Haus in Kleinmachnow, in dem wir regelmäßig unsere Nachbarn, Freunde und Hannos Geschäftspartner bewirteten. Meine Tage waren damit ausgefüllt, drei Kinder und den Haushalt zu organisieren, mich um den Garten zu kümmern, Abendessen mit Gästen auszurichten und unsere Urlaube vorzubereiten. Ich stand jeden Morgen um fünf Uhr dreißig auf – Frühstücksbrote für Kita und Schule schmierten sich nicht alleine. Die Vormittage verbrachte ich mit Hausarbeit sowie Einkauf und Planung der Abendessen. Dann holte ich die Kinder ab, fuhr sie zu Sport, Musik und Freunden oder sorgte für ein vernünftiges Rahmenprogramm bei uns daheim für die Zeit bis zum Abend. Wenn die Kinder abends im Bett lagen und kein Dinner anstand, nähte ich kaputte Kinderkleidung, backte Kuchen, Muffins oder Kekse, bereitete das Mittagessen für den nächsten Tag vor und kümmerte mich um die Bügelwäsche. Um Mitternacht, meist sogar weitaus später, fiel ich regelmäßig erschöpft ins Bett.
Sporadisch kehrte unsere Nachbarin Franziska auf einen Kaffee oder ein Glas Sekt ein, wenn sie am frühen Nachmittag aus dem Büro kam. Sie wohnte drei Häuser weiter und hatte einen Sohn, der drei Jahre älter als Helene war und eine internationale Ganztagskita und später die Ganztagsschule besuchte, der sie angegliedert war. Franziska war ständig im Stress. Ein Halbtagsjob, das Haus, Kosmetik und vier Sportkurse in der Woche nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch. Ich beneidete sie gelegentlich um ihre Putzfrau, teilte aber Hannos Meinung, dass das nicht nötig sei bei uns, da ich ja zu Hause war.
Hanno entsprach derweil dem klassischen Vaterbild des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Leben seiner Kinder kannte er nur vom Rande her. Abends zog er sich, wenn wir keine Gäste hatten, oft in sein Arbeitszimmer zurück, und an den Wochenenden brauchte er seine Ruhe, wenn er nicht geschäftlich auf dem Golfplatz zu tun hatte. Außerdem arbeitete er an seinem Romandebüt. Der König des Kitschromans versuchte sich an echter Literatur. Rund fünf Jahre lang. Dass er nicht nur an seinem Roman arbeitete, sondern sich auch in einschlägigen Online-Kontaktforen tummelte, wenn er in seinem Arbeitszimmer verschwunden war, erfuhr ich erst viel später.
Ich hatte nichts Falsches an meinem Leben gesehen. Die Kinder waren bestens versorgt. Sie besuchten erstklassige Schulen, wir hatten ein wunderschönes Zuhause, und ich würde meine Zille-Hüften auch bald wieder unter Kontrolle bekommen, da war ich mir ganz sicher. Dass Hanno und ich nach den drei Kindern kein aufregendes Liebesleben mehr führten, schien mir wenig problematisch.