Ein Sommer in Berlin. Beate Vera

Ein Sommer in Berlin - Beate Vera


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Zehn Minuten später setzte sich Daniel dazu und malte sein Piratenschiff weiter, dicht gefolgt von Helene, die ein Referat über ökologische Tierhaltung vorbereitete. Mir ging das Herz auf, als ich sie da am Tisch sitzen sah: meine Kinder. Die ließe ich mir nicht wegnehmen!

      Seit ich meinen Mädchennamen wieder trug, ertappte ich mich immer öfter dabei, auf die Jahre mit Hanno zurückzuschauen, wobei das Resümee vom einen zum anderen Mal unerquicklicher wurde. Ich hatte fünfzehn Jahre lang das gemacht, was Hanno wollte, ohne es zu hinterfragen. Ich hatte viel um die Ohren gehabt, gewiss, dennoch musste ich mir auch eingestehen, dass es bequem gewesen war, sich um einige Dinge nicht kümmern oder Gedanken machen zu müssen. Dieses Phlegma hatte mich schon länger begleitet. Vorher hatte ich rund 25 Jahre lang das gemacht, was meine Mutter für richtig hielt. Nur meine Berufswahl hatte ich gegen sie getroffen. Man sähe, wohin mich das gebracht habe, schmierte sie mir seitdem regelmäßig aufs Butterbrot. Mit vierzig, so mein Fazit, war es allerhöchste Zeit, endlich das zu tun, was ich von mir selbst erwartete. Auch wenn ich mir noch lange nicht im Klaren darüber war, was das sein sollte.

      Ein erster Schritt wäre mit Sicherheit, mir einen Anwalt zu suchen, und inzwischen hatte ich mich auf diesen früheren Bekannten versteift. So schnappte ich mir den Laptop und googelte nach Quintus Hartmann. Seine Buchhandlung gab es immer noch, und ich schickte eine E-Mail an [email protected]. Automatisch wählte ich die französische Form, in der ich auch früher meine Briefchen oder Notizen an ihn gerichtet hatte. Ich brauchte fünf Anläufe und eine geschlagene halbe Stunde für das bisschen Text. Doktor Freud hätte seine selbige an mir gehabt.

       Bisou!

       Es ist lange her. Ich hoffe, es geht Dir gut!

      Ich habe ein ernstes Problem und suche dringend einen Anwalt. Hast Du noch Kontakt zu Stefan und könntest mir seine Adresse vermitteln? Das wäre sehr nett von Dir.

       Merci mille fois!

       A+,

       Catia

      Mit Küsschen pflegten sich Franzosen zu begrüßen, mit à+ – à plus, auf bald – verabschiedete man sich salopp in der französischen Internetgemeinde. Ich fragte mich für einen Moment, ob diese E-Mail auch zu einem baldigen Wiedersehen führen würde und was ich womöglich davon hielt. Genauso schnell aber verdrängte ich diese Fragestellung wieder.

      Quinn, so nannten ihn seine Freunde in Anspielung auf The Mighty Quinn, das 1967 von Bob Dylan geschrieben wurde und in Quinns Geburtsjahr ’68 ein Hit der Manfred Mann’s Earth Band war. Ich drückte auf Senden und hoffte auf eine rasche Antwort, um einen Termin mit Stefan vereinbaren zu können.

      Nachdem die Hausaufgaben gemacht waren, spielten die Kinder und ich mehrere Runden Triominos. Das war seit Jahren unser Lieblingsspiel, und kurioserweise war Daniel, der Jüngste, der Beste darin. Er wusste stets genau, ob sich die Zahlen auf einem noch fehlenden Stein an den passenden Ecken befanden, um eine Brücke oder einen Kreis zu komplettieren und satte Extrapunkte einzuheimsen. Seine älteren Geschwister und ich brauchten schon großes Glück, um gegen den kleinen Graf Zahl zu gewinnen. Wir spielten bis zum Abendbrot.

      Als alle Kinder dann schliefen, schaute ich in mein E-Mail-Postfach. Tatsächlich – da war eine neue Mail von [email protected]!

       Ciao Catia!

       Mensch, das ist ja so eine schöne Überraschung!

      Wie geht es Dir? Wie lange ist es jetzt her? Eine halbe Ewigkeit! Es tut mir leid zu hören, dass Du Probleme hast.

      Stefan erreichst du unter 818 18 18 oder per Mail an [email protected].

      Gehst Du mit mir essen? Morgen Abend in der Phoenix Lounge? Um acht? Du würdest mir eine große Freude machen!

       Ich schick Dir einen Gruß;)

       Q.

      Ich schaute sprachlos auf seine Zeilen. Auch Quinn war dem alten Modus treu geblieben, deutlich wurde das in seiner Anrede und vor allem am Ende seiner Mail. Die letzte Zeile spielte auf den Titel eines Liedes der Valente an. Es war unglaublich kitschig, und deshalb hatte er diese Worte schon damals gerne benutzt, genauso wie »Ich sag leise servus«, was er frei nach einem Duett der großen Chansonnière mit dem schmalzigen Silvio Francesco zitierte. Das hatte mich früher oft Tränen lachen lassen.

      Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte die Adresse eines Anwalts. Und ich hatte eine Verabredung mit Quinn. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, ihn zu kontaktieren? Vincents Riesenkröte hatte ganze Arbeit geleistet.

      Es war nach Mitternacht, und ich fand keine Ruhe. An Schlaf war nicht zu denken, auch wegen der schwülen Nachtluft nicht, die durch das offene Zimmerfenster kam. Ich saß auf meinem Bett, hörte Jacques Brel und schaute mir alte Fotos an. Fotos aus einer Zeit, die ich beinahe vergessen hatte. Dabei war es eine so wunderbare Zeit gewesen.

      Schon bei meinem Vorstellungsgespräch in seiner Buchhandlung hatte ich ein Prickeln auf der Haut gespürt, kaum dass ich Quintus Hartmann gegenübergesessen hatte. Der große, schlanke und leger gekleidete Mann schaute meine Papiere durch und grinste mich dann unverhohlen an. Er habe den Buchladen erst ein paar Monate zuvor von seinem Vater übernommen, den ein Schlaganfall gezwungen habe, seine Arbeit niederzulegen, und nun habe er, Quintus, ein ziemlich großes Problem. Das Studium der Philosophie habe ihn nämlich keineswegs auf die Führung eines Buchladens vorbereitet, wie er mir frank und frei mitteilte. Er habe auch keine Ahnung davon, wie man Bewerbungsgespräche führe, weshalb er sich die Fragerei schenken werde. Er brauche dringend jemand, der den Laden leiten könne, ich sei ihm sympathisch, und sollte ich am Montag anfangen können, sei der Job meiner.

      Ich fand den Gedanken ganz großartig, bei meiner ersten Festanstellung gleich eine Buchhandlung zu führen, auch wenn das eine ganz schöne Herausforderung war. Quintus hätte selbstverständlich das Sagen, hatte mir aber deutlich zu verstehen gegeben, dass ich Buchhaltung, Marketing und Bestellwesen eigenverantwortlich übernehmen müsse. Ich sagte auf der Stelle zu, obwohl das Anfangsgehalt alles andere als üppig war. Es würde trotzdem für eine kleine Wohnung reichen, rechnete ich mir aus. Mit Anfang zwanzig hatte ich schließlich noch keinen ausufernden Lebensstil.

      Meine Mutter war selbstredend dagegen gewesen. Sie wollte, dass ich mein abgebrochenes Studium beendete, schließlich sei ich noch jung. Nach meiner verkürzten Schulkarriere hatte ich Zeit, die Ausbildung zur Buchhändlerin noch vor ein mögliches Studium zu stellen. Nach bestandener Prüfung und einem Auslandsjahr als Au-Pair im Languedoc schrieb ich mich mit zwanzig für Französische Literatur an der FU ein. In den Semesterferien jobbte ich in einer Buchhandlung und las Bücher und Abhandlungen über Émile Zola, der mich damals über alle Maßen faszinierte.

      Die Faszination meines damaligen Profs dagegen galt jungen Frauen, insbesondere mir, und er machte mir eindeutige Avancen. Als ich darauf nicht einging, fiel meine Note in Französische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts in schwindelerregende Tiefe, ohne Aussicht auf Erholung, und ich schmiss das Studium nach dem dritten Semester. Den Grund behielt ich aus Scham für mich. Es hatte damals zu Hause unzählige Diskussionen über meinen Berufswunsch gegeben, denn meine Mutter hatte im Anschluss an meine »ohnehin überflüssige Ausbildung« nichts Geringeres als ein Germanistik- oder Romanistikstudium erwartet. Danach eine steile Karriere als Autorin existenzphilosophischer Bestseller oder als Leiterin eines renommierten Verlagshauses, aufgrund meiner Fremdsprachenwahl am besten in Paris. Dass ich nun schnöde arbeiten ginge, noch dazu in einem »Laden« in Schöneberg – was sie mit einem Lippenkräuseln betonte, das keine Zweifel an ihrer Haltung ließ –, passte ihr ganz und gar nicht. Sie können sich vorstellen, wie begeistert sie war, als Quinn und ich dann auch noch eine Beziehung begannen. Ich war überglücklich, und meine Mutter sprach drei Monate lang kein Wort mit mir.


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