Chancenmanagement in der Krise. Gerhard Seidel

Chancenmanagement in der Krise - Gerhard Seidel


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man die Differenz zwischen dem, was die verantwortlichen Banker, Wirtschaftspolitiker und Finanzexperten vor sechs Monaten oder einem Jahr für die kommenden Monate und Jahre prognostiziert haben, mit dem jetzigen Zustand der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in Europa vergleicht und die ermittelte Differenz zwischen den Vorhersagen und dem heutigen Stand als mögliche weitere Entwicklung in die Zukunft extrapoliert, dann kann man sich in etwa vorstellen, wo wir in weiteren sechs Monaten oder in ein paar Jahren sein könnten. Inzwischen werden die Abstände, in denen die wirtschaftspolitischen Aussagen korrigiert werden müssen, weil die beschlossenen Maßnahmen nicht funktionieren, immer kleiner. Oder wie es ein befreundeter Banker neulich formulierte: Die „Einschläge“ kommen immer näher.

      Es gibt natürlich immer wieder Einwände gegen solche Prognosen, schließlich stirbt die Hoffnung zuletzt. Folgende Bedenken und Entschuldigungen bestimmen oft die Widerstände meiner Kunden in den Beratungsgesprächen:

      • Das wird schon seit Jahren erzählt – und bis jetzt ist nichts passiert.

      • Heute hat man wesentlich bessere Instrumente als 1930!

      • Wir stehen doch gut da!

      • Die da oben sind ja nicht blind!

      • Wollen Sie schlauer sein als die Leute, die sich täglich damit beschäftigen?

      • Alles der Reihe nach – keine Panik!

      • Es wird schon nicht so schlimm werden.

      • Ich denke, es dauert noch etwas.

      • Wir können sowieso nichts dagegen tun.

      • Man kann sich doch nicht ewig Sorgen machen und Angst haben!

      • Was ist, wenn es der Regierung und allen anderen Beteiligten gelingt, die Krise zu beenden?

      Tja, was dann – wenn die Krise nur ein „Kriselchen“ wird und es einfach so weitergeht wie bisher? War dann die ganze Arbeit umsonst? Wir haben uns monatelang mit den möglichen Problemen einer zukünftigen dramatischen Situation herumgeschlagen und jetzt sind die ganzen Vorsorgemaßnahmen überflüssig. Die Zeit und das Geld, welches wir in diese Aktivitäten gesteckt haben, das fehlt uns vielleicht anderswo.

      Zunächst einmal: Die Krise kann nicht verhindert, sie kann höchstens verschoben werden. Darüber sind sich alle – auch die Politiker – einig. Richtig ist auch, es geht nicht um Pessimismus oder Optimismus, sondern es geht um Realismus. Nur wer die möglichen Gefahren in ihrer gesamten Größe einschätzen kann, der ist auch in der Lage, eine adäquate Vorsorge zu treffen. Nur ein bisschen vorzusorgen, ist vertane Zeit und Mühe.

      Die Polizei, die sich auf randalierende Chaoten bei einer Demonstration vorbereitet, wird auch nicht wegen Verschwendung von Steuergeldern gerügt, wenn alles gut geht.

      Ein Flugkapitän macht regelmäßig seine Crashübungen im Flugsimulator; niemand käme auf die Idee, ihn erst dann wieder „üben zu lassen“, wenn er wirklich mal einen Unfall verursacht hat. Ziel der Schulung ist es, notwendige Reaktionen einzustudieren, die blitzschnell und automatisch ablaufen und das Unglück verhindern sollen.

      Potenzielle Überraschungen und Eventualstrategien zu durchdenken, ist nicht ein Zeichen von Angst oder Schwäche, sondern von Weisheit und Verantwortungsbewusstsein. Sich auf die wirtschaftliche Sintflut (Tsunami) mit der gesamten Mannschaft vorzubereiten ist das, was der „vorsichtige Kaufmann“ tun sollte.

      Außerdem lehrt die praktische Erfahrung bei der Beratung von Unternehmen, dass die in solchen „Chancen-Workshops“ erarbeiteten Strategien und Aktionen schon vorher umgesetzt werden. „Warum sollen wir noch warten, bis die Krise kommt“, so die häufige Erkenntnis der Teilnehmer. „Das hört sich doch gut an, das machen wir sofort und nicht erst, wenn die Bedrohungen da sind.“

      Der vorsichtige Kaufmann (ein Leitgedanke des Handelsrechts), der den heute oft geschmähten Vorsichtsgrundsatz praktiziert, bietet mit seinem vorausschauenden Verhalten etwas, was Banken, Mitarbeiter und Kunden heute sehr zu schätzen wissen: Sicherheit, Verlässlichkeit und Mut, auch unangenehme Wahrheiten anzunehmen.

      Wenn es stimmt, dass Unternehmer und Führungskräfte keine Erfahrungen mit weltweiten Krisen haben und nur auf ihr Wissen und die in ihrem beruflichen Leben gewonnenen Erkenntnisse zurückgreifen können, dann ist es wichtig zu entlernen.

      Erfahrungen werden in bestimmten Situationen gemacht. Sie sind nur dann hilfreich, wenn die Situation, in der wir dieses Wissen anwenden wollen, vergleichbar ist. Doch das ist leider nicht immer der Fall. Erst recht nicht in der jetzigen, wirtschaftlich prekären Konstellation.

      Ja, oft sind solche Erfahrungen und Überzeugungen nicht nur nicht brauchbar, sondern sie sind kontraproduktiv bzw. schädlich. Nämlich dann, wenn wir keine besseren Alternativen kennen, die der Entscheidungssituation mehr Rechnung tragen als unbrauchbare Kenntnisse aus vergangenen Erlebnissen.

      Denn mit unseren Entscheidungen schaffen wir unsere Wirklichkeiten. Diese Wirklichkeiten, welche wir aufgrund unserer Bildung, Einsichten, Überzeugungen, Kenntnisse, Glaubenssätze, unseres Wissen usw. entscheiden bzw. kreieren, sind etwas sehr Persönliches und Subjektives. Die gute Nachricht ist, dass wir diese Sichtweisen in jedem Augenblick unseres Lebens neu überdenken und neu erfinden können. Die schlechte Nachricht ist: Unseren oft falschen, unbrauchbaren oder unvollständigen Erfahrungsschatz und die verinnerlichten Ansichten (Vorurteile) zu beeinflussen, zu korrigieren oder gar zu eliminieren, um so das Richtige aus den sich im Leben bietenden Möglichkeiten auszuwählen, ist eine der schwierigsten Aufgaben – nicht nur für Manager – überhaupt.

      Eine gute Bekannte ist psychologische Psychotherapeutin. Zu ihr kommen Menschen, die in inneren und äußeren Verhältnissen leben, die meist so schlimm sind, dass man von krankhaften Zuständen sprechen kann.

      Was macht sie, um diesen Patienten zu helfen? Sie „entlernt“ diese Menschen! Sie befreit sie von falschen Überzeugungen und Annahmen, die Partnerschaften zerbrechen oder Süchte entstehen lassen. Sie hilft ihnen, die negativen Emotionen von traumatischen Kindheitserlebnissen zu entkoppeln und gibt ihnen Hilfe zur Selbsthilfe. Im Mittelpunkt der Therapie steht, nach Einsicht in Ursachen und Entstehungsgeschichte ihrer Probleme gemeinsam mit den Patienten neue Einstellungen und lebensfrohe Verhaltensweisen zu erarbeiten, die eine bessere Lebensqualität ermöglichen.

      Entlernen, bewusstes Vergessen, ist also möglich – auch in einem Unternehmen! Dafür braucht man keine Therapeuten, aber man sollte trotzdem einige Besonderheiten und Regeln beachten, die nachfolgend kurz skizziert werden.

      Wir gehen viel zu oft davon aus, dass Führungskräfte oder Mitarbeiter mit einer – bildlich gesprochen – leeren Schüssel zum Seminar, zur Mitarbeiterbesprechung oder zum Workshop kommen. Zu oft wird unterstellt, dass die Menschen für alles Neue offen sind (zugegeben, das unterstelle ich als Autor dieses Buches auch). Doch der Wissensnapf, der (Er)Kenntnisbehälter, ist bereits voll. Gefüllt mit bewährtem Wissen, mit Erfahrungen oder verlässlichen Fertigkeiten, da passt gar nichts mehr rein. Der neue Lehrstoff, die alternative Strategie, die neuen Methoden haben keinen Platz. Das Neue – das vielleicht tatsächlich Bessere – läuft über, wird zum Abwasser. So wird das Lernen zur Mühsal für alle Beteiligten. Das neue gewünschte Verhalten kann sich nicht entwickeln und etablieren, weil das vorgetragene Wissen, die neuen Regeln, die zu lernenden Fertigkeiten in Konkurrenz zu dem Bewährten stehen.

      Man müsste den Wissensnapf erst einmal leer machen oder zumindest wahrnehmen und akzeptieren, dass der Mensch in der Vergangenheit schon vieles gelernt und genutzt hat, was er braucht, um seine Arbeit gut zu erledigen, bevor man den Behälter wieder füllt.

      Eine oft nicht erkannte Aufgabe des Managements ist es, das bewusste, das absichtliche Vergessen von überholtem Wissen zu initiieren, die Mitarbeiter anzuhalten, unbrauchbare Erfahrungen oder überholte Überzeugungen wahrzunehmen und zu korrigieren, damit diese falschen Entscheidungsgrundlagen keinen Schaden mehr anrichten können. Neben dem Wissensmanagement ist auch dem Vergessensmanagement mehr Bedeutung zu geben.


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