Der gefesselte Dionysos. Patrik Knothe
Inkompetenz was Finanzen anbelangte führte schließlich zur Zwangsversteigerung seines Guts. Nun lebte er mit seiner jüngeren Schwester und deren Mann im Haus seiner verstorbenen Eltern oder besser gesagt: Er wurde von ihnen ausgehalten (vom Haus gehörte ihm nämlich auch nichts mehr). Einzig das ständige Flehen seiner Schwester an ihren Mann bewahrte Orthos davor auf die Straße geworfen zu werden.
Nach seinem Bankrott versuchte man zuerst ihn weiterhin in den Familienbetrieb mit einzubinden, aber die andauernden Streitigkeiten zwischen Orthos und seinem Schwager Minos führten dazu, dass Ersterer von jeglicher Verantwortung entbunden wurde und nun ein gelangweiltes Dasein fristete das neben dem ständigen Biertrinken nur daraus bestand, die Einwohner von Delphi, insbesondere die Kinder, zu schikanieren. Jeder im Dorf kannte ihn. Früher verkauften seine Eltern in ihrer Scheune Brot, Eier und Äpfel. Orthos Schwester und Minos übernahmen den Laden und eine ganze Zeit lang brachte er ihnen einen guten Nebenverdienst ein; bis sie Orthos bei sich aufnahmen. Ständig lungerte er vor der Scheune herum, belästigte und beleidigte die Kunden wenn sie ihm nicht in den Kram passten und schließlich kam irgendwann niemand mehr.
Unsere Hüttenbauer jedoch wurden dieses Mal verschont, denn Orthos blieb nur kurz stehen und ging dann weiter in die entgegengesetzte Richtung, die ins Dorf zurück führte.
Apollon wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Puh … nochmal Glück gehabt. Hast du schon gehört, dass er Jorgo einen Tritt in den Hintern verpasst hat?“
„Nein, warum das?“
„Nur weil er einen Apfel von einem Baum gepflückt hat. Natürlich hats mal wieder kein Erwachsener gesehen und wieder kann ihm keiner was anhaben. Aber irgendwann … komm, gehen wir weiter. Ich glaube er ist weg.“
Da die beiden bereits ein paar Stunden zuvor die Holzlatten an den Baum ihrer Wahl gebracht hatten, konnten sie sich direkt an die Arbeit machen. Es war eine große Eiche die in vielerlei Hinsicht von Vorteil war: Erstens konnte man leicht an ihr hochklettern; zweitens war sie vom Waldrand aus fast nicht zu erkennen, was einen optimalen Schutz gewährleistete und schließlich, was das Wichtigste war: Zwei starke, massive Äste die auf annähernd gleicher Höhe ziemlich waagrecht verliefen und auf denen man leicht ein Gerüst bauen konnte.
Das war es auch, was sie sich für den heutigen Tag vorgenommen hatten. Das Baumhaus sollte eineinhalb Meter breit, zwei Meter lang und zwei Meter hoch werden. Der einzige Wermutstropfen war der Hochstand der sich in unmittelbarer Nähe erhob. Doch der sah so heruntergekommen aus, dass es nicht den Anschein machte als ob dort regelmäßig ein Jäger rastete.
Sie arbeiteten mit einem vorgezeichneten Plan von Petros und von einigen kleinen Patzern abgesehen machten es die beiden wirklich gut (Dionysos schlug mehr Nägel krumm als ins Holz und Apollon hämmerte sich zwei Mal doll auf den Finger). Schneller als erwartet stand das Gerüst und sie begannen damit die Holzlatten zu befestigen.
Als die Dämmerung einsetzte, sagte ein sehr geschlauchter und verschwitzter Apollon: „Es wird dunkel und mir fallen gleich die Hände ab. Ich würde sagen wir gehen zurück und machen morgen weiter.“ In Dionysos’ Augen, die vom Rausch der Arbeit glühten, machte sich leichte Enttäuschung breit.
„Oh, man … ich könnte die ganze Nacht bauen!“, rief er fröhlich aus und hob dabei seine Hand in die Luft. „Aber du hast recht. Wir haben keine Lampe dabei. Gehen wir!“
Sie stiegen hinunter und betrachteten ihr Werk. Apollon sah leicht kritisch aus.
„Mmhhh, dieser eine Ast dort … den da … der macht mir immer noch Sorgen. Der könnte brechen. Und an der einen oberen Ecke müssen wir auch dringend was zum Abdichten besorgen. Und …“
Dionysos hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war nur völlig verblüfft von seiner Leistung und der Tatsache, dass dieser Baum heute morgen noch ein ganz normaler Baum gewesen war und jetzt eine Hütte, ihre Hütte, darauf war. Es fehlte zwar noch ein großer Teil der Wände sowie das komplette Dach, doch es war definitiv für jeden erkennbar, dass es sich um etwas handelte was zwei Jungen mit all ihrer Liebe und Energie gefertigt hatten.
In ihrer Müdigkeit nahmen sie natürlich keine Notiz von dem Beobachter, der schon seit geraumer Zeit jeden ihrer Schritte beäugte.
V
Der nächste Tag begann beinahe so schön wie der vorige. Die wenigen Wolkenschleier die morgens durch den Himmel zogen waren bereits gegen zehn Uhr verschwunden und machten Platz für eine kräftige Frühlingssonne, die die Natur nach dem langen Winterschlaf wieder zur ihrer vollen Blüte bringen wollte.
Als Dionysos mit seinem Freund gegen neun Uhr Richtung Wald lief, sah er von weitem einen Mann auf sie zukommen. Die Gestalt kam ihm bekannt vor.
„Nicht schon wieder …“, sagte Apollon und sah sich bereits nach einem Versteck um. Dionysos jedoch strahlte. „Das ist nur Diogenes. Wir brauchen uns nicht zu verstecken!“
Apollon schien verdutzt. „Was? Der Penner aus der Tonne, der immer mit seiner Frau streitet?“
„Das ist kein Penner. Er ist sehr weise und ein durch und durch guter Mensch. Meine Mutter sagt das auch.“
„Wenn er so weise ist, warum lebt er dann die Hälfte des Jahres in einer Holztonne? Und was deine Mutter sagt, …“ Um ein Haar hätte sich Apollon verplappert.
Es war kein Geheimnis, dass ein Großteil der Einwohner von Delphi nach wie vor davon überzeugt war, dass Xenia ein sehr seltsamer Mensch war vor dem man sich zu hüten hatte.
Dionysos sah ihn böse an. „Was hast du gegen meine Mutter? Wenn du …“
„Ja, Entschuldigung“, fiel ihm Apollon ins Wort.
„Na ihr zwei … heute das Dach und die Wände?“, rief ihnen Diogenes entgegen, der gerade dabei war sich eine Zigarette anzuzünden. Er blieb stehen, inhalierte tief und sah die Jungs an.
Die beiden Freunde waren verdutzt.
„Jaja, mir entgeht hier nix“, sagte Diogenes. „Habt ihr sehr schön gemacht. Aber passt auf! Ich hab vorhin jemand im Wald rumschleichen sehen. Konnt nich erkennen wer das war … könnt das gemeine Ekel sein, ihr wisst schon wer … also gebt Obacht. Und du Kleiner, sag deiner Mutter n lieben Gruß von mir. Heute erfreuen sich die Himmel an uns!!“, rief er und lief weiter. Eine paar Schritte und einen tiefen Zug von der Zigarette später drehte er sich plötzlich nochmals um. Ihm schien etwas eingefallen zu sein und er kratzte sich an der Schläfe.
„Ach, Dionysos“, er dachte angestrengt nach „… ich hab noch … oder nich? Hä? Egal … HAHAA … wir sehen uns …“
Als Diogenes außer Hörweite war begann Apollon zu lachen: „Ich sag dir, der hat sie nicht mehr alle am Sender! Wie kann man so einen Stuss labern? Und der soll weise sein, sagst du?“
„Lass ihn in Ruhe“, sagte Dionysos leise. Es war eine Eigenart Apollons, jeden zu verurteilen der seine Gedanken nicht klar in Worte fassen konnte. Mitschüler und mitunter sogar manch ein Lehrer hatten dies schon zu spüren bekommen.
Nachdem die beiden sich am Waldrand gegenseitig mit faulem Gras beworfen hatten war ihr Streit jedoch schon wieder vergessen. Als Dionysos sich den letzten Rest Erde aus den Haaren gezogen hatte und wieder Richtung Werkzeug ging, vernahm er deutlich Schritte ganz in ihrer Nähe zwischen den Bäumen.
„Hörst du das auch?“, zischte er Apollon entgegen und sah sich um.
„Was?“
„Da ist jemand!“
„Ich hör nichts!“
Die beiden sahen sich um. Es war nichts zu erkennen und auch die Schritte waren verstummt.
Mit einem Male riss Apollon die Augen weit auf. „Meinst du Orthos verfolgt uns?“, fragte er den ebenso verängstigten Dionysos.
„Wer soll es sonst sein? Aber warum versteckt er sich vor uns? Vielleicht will er uns auf frischer Tat ertappen und wartet bis