Die Keusche. Volker Krug
Hände gruben sich tief in den dichten Schopf ihrer weichen, ihrer dichten braunschwarzen Haare. Immer fester umklammerten sie das zitternde Haupt.
Das Summen, der leichte Druck im Ohr verloren sich langsam. Annelie hielt ihre Hände leicht gegen seine Brust gelehnt; sie schaute versunken in seine graublaue Iris, still verharrend. Spielst du mit mir? Doch er bewegte sich kaum, gefesselt von den aufgebrochenen Gefühlen, erschrocken von der Veränderung um ihn her, das Wäldchen vergessend, das Gespräch, die düsteren Gedanken. Er wälzte sich vorsichtig zur Seite und blieb so nahe mit seinen Gedanken und seinem Körper, wie es irgend möglich war. Diese Überraschung überkam sie beide gleichermaßen unwiderstehlich, glückhaft, verwirrend. Wozu jetzt noch Erklärungen? Die Dinge erklärten sich selbst. Waren diese Küsse schon viel gewesen oder wenig? Verschwindendes oder die weite Welt? Wohin wendeten sich ihre Herzen, auch wenn das Glück der Stunde, dieser Minuten, unsterblich schien? Was kam nach diesem Schweigen? Sieg? Hoffnung? Oder versank alles bald in tiefer Vergessenheit?
Zwischen ihren Häuptern flimmerte die Spannung dieses Sommernachmittags. Wohin war all der Kontrast entschwunden? Endlich hob sie leicht den Kopf und setzte zum Sprechen an. Zögernd, den weiten Blick hinaus auf die Stoppelfelder gerichtet, die die Ferne goldgelb schillernd verließen. Ein Blick wie ein Abschied, wie gesättigte Verzweiflung. Annelies Lippen bewegten sich leicht.
„Ich habe noch keinen gefunden, der dieses Schicksal mit mir teilen wollte.“ Er sah sie an, lächelte, dann strich er ihr über das leicht zerzauste Haar. Seine Brust hob sich erleichtert aus der Starre. „Ich … Ich habe einen Ruf zu verlieren“, sagte sie, etwas ironisch.
„Ah!“, kam es über seine Lippen. Er schmunzelte fort, da er spürte, wie es auch sie überkam. Doch ihre Lunge flog, er spürt es, und ihre Brust bebte unter ihrem Atem. Dann sein Flüstern: „Ist es so schlimm, ihn an mich zu verlieren?“
Sie lachte nicht etwa; sie beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn erneut auf den Mund. Dann sog sie die linde Luft ein und schloss die Augen, sekundenlang, erleichtert. Sie genoss diesen Augenblick innerer Unruhe. Als er endlich ihren Kopf zwischen seine flachen Hände nahm, sah sie ihn mit neuer Klarheit an. Er zog den Mund an seine Lippen.
„Ist dir das genug?“
Sie umarmte ihn heftig. „Ich …“
Er legte ihr die Finger auf die Lippen. „Worte sagen so viel, so wenig. Wenn du es nicht spürst, ist alles umsonst. Wir werden noch genug Zeit haben, uns zu erforschen.“
„Ich liebe dich wie mein Leben!“, flüsterte sie verhalten. „Ich muss es einfach sagen, auch wenn du mich nicht hörst.“
„Ich höre dich, Annelie. Um mich her nur Jubel und Unbefangenheit!“
„Aber Reinhard, ich meinte … Du hast … Du bist vielleicht …“
„Nein, nein, ich sah dich das erste Mal und ohne daran zu denken. Es gibt niemanden, der mir ins Gewissen reden dürfte. Und wenn du das meinst: Ja, ich kenne dich! Kann man sich in einer Stunde tiefer kennen lernen?“
Sie fuhr mit den Fingerspitzen über den Ansatz seiner Haare. „Noch vermag ich es nicht so recht zu glauben. Noch immer schlägt mir das Herz, so stürmisch, so verzagt, in ängstlichem Takt.“
Sie küsste seine Stirn, als müsste sie ihre Empfindungen für immer dahinter versiegeln. Dann sprang er auf und zog sie mit einem Ruck empor. „Ach ja!“ Kräftig umspannte er sie mit den Armen und wirbelte sie im Kreise umher, dass sie den Boden unter den Füßen verlor.
Am Horizont verfärbte sich langsam die Sonne. Nur noch eine Handbreit trennte ihre Scheibe vom Erdkreis. Sie liefen eng umschlungen heimwärts, dem angestrahlten Osten entgegen, die Sonne im Rücken. Meilen hinweg hatte sie das gegenseitige Bestaunen geführt; es dämmerte langsam, als sie sich dem Dorfe näherten. Doch sie genossen die Zeit und schlenderten dahin. Wer konnte sie jetzt noch behelligen, wer fürchten lassen! Sie suchten, die kostbare Zeit zu nutzen.
Annelie schmiegte sich still an seine Schulter und er grub immer wieder seine Nase in ihr duftendes, nach Wiese duftendes Haar. Er musste sie küssen, wieder und wieder. Sein heißer Atem umstrich ihr erhitztes Gesicht. Der Knopf am Ansatz ihrer Bluse hatte sich gelöst; seine Hand jedoch war es nicht gewesen; sie hatte keine Absicht spüren lassen. Fiebriges Erschrecken befiel sie, als er es bemerkte, und ihre Augen ruhten ängstlich unter ihren Brauen. Noch war der vergangene Abend nicht aus ihren Gedanken verweht. Wie immer sie Reinhard vertraute: Wie würde er sich verhalten? Diese plötzliche Ängstlichkeit ließ sie verzweifeln. Zerstörte sich alles, was sie erträumt hatte? Entschied nun der Alltag zwischen Glück und Verzweiflung? Ahnte Reinhard denn nicht, dass er sie möglicherweise hinabstieß in Tiefen, die ihm nicht vorstellbar waren? Oder besaß er Willensstärke genug, einem solch verführerischen Ansinnen zu trotzen, es vielleicht gar nicht herbeizusehnen?
Heiß fühlte sie seinen Blick auf dieser Blöße brennen, dort, wo sich der Ansatz ihres Busens zeigte. Verschämt vermied sie, ihm ins Gesicht zu sehen. Aber sie tat es dennoch, tat es eine Ewigkeit lang. Er schien verwirrt, für einen Augenblick verlegen. Als sie ihre Augen senkte, griff er bereits nach ihrem Kragen und knöpfte ihn zu.
„Damit es dir nicht zu frisch wird!“, sagte er und wies auf die untergehende Sonne.
Sie flog ihm um den Hals, sekundenlang, minutenlang, so schien es, mit spürbarem Beben. Er sollte die Tränen nicht sehen.
„Aber Annelie“, flüsterte er. „Annelie, du hättest noch vier Tage Zeit, um mich zu prüfen, zu …“
„Brauche ich sie denn?“
„Noch vier erbärmliche Tage haben wir Zeit!“, wiederholte er traurig.
„Ach Reinhard! Muss ich dich stattdessen nun trösten? Sie sind nicht erbärmlich. Sie sind das Leben, unser Leben!“
Langsam schlenderten sie auf das Dorf zu. Die Konturen der Dächer zeichneten sich bereits hinter dem nächsten Feldrain ab. Er hielt ihren Kopf in seinen Händen und musterte jeden Winkel ihres Angesichts. „Ja, wer sollte sie uns auch stehlen!“, sagte er. „Wer sollte sie stehlen. Ich will jeden Tag bei dir sein, Annelie. Alle sollen es sehen, alle!“
Sie seufzte tief auf. „Ach, Reinhard, welch schönes Geschenk! Niemand wird mehr an mir verzweifeln dürfen. Die Welt ist tatsächlich klein, wenn man sie mit glücklichen Augen sieht! Überall Schönheit, Erhabenheit, Herrlichkeit.“
„Siehst du!“, meinte er lächelnd. „Man muss sich seines Anteils nur vergewissern.“
„Wenn du wegfährst – so traurig dies auch ist – werde ich ein ganz anderer Mensch sein. Glaub mir, der Gedanke an dich ist erhabener als jede Traurigkeit.“
„Was sollte ich sehnlicher wünschen als die Gewissheit, dass du mich niemals vermissen wirst.“
Die Sonne tauchte so schnell hinter den Horizont hinab, als wolle sie sich nach getaner Arbeit davonstehlen. Von Osten her schlich der Dämmer flach über das Land. Dort glänzte inzwischen der Mond in immer hellerem Schimmer. Noch zog sich der Weg scheinbar endlos zwischen den Feldern dahin. Ein angenehmer, erfrischender Wind begleitete sie in diesen Abend, in diese Nacht.
„Ich habe mächtigen Hunger.“
„Gehen wir auf mein Zimmer. Ich habe genug im Kühlschrank. Es reicht für uns beide“, sagte sie, glücklich, weitere Stunden Gemeinsamkeit gewonnen zu haben.
Von fern her tönte leise Tanzmusik. Sie wiegte leicht den Kopf im Rhythmus, nahm seine Arme und ließ sich führen – ein paar Drehungen nur auf dem holprigen Feldweg. Sie schien wie im Elfenreigen über die Erde zu schweben, so leicht wie ein Hauch. Verschwimmend. Die Töne verschmolzen zu sanft auf- und abschwellenden Melodien, die in ihren Gefühlen herantanzten. Mozart, Schubert vielleicht … Wirbelnder Lebensmut, Beethoven …
„Und was beginnen wir jetzt?“, fragte sie innehaltend.
„Als ob wir uns langweilen könnten!“, antwortete er vorwurfsvoll.
Der Weg beschrieb plötzlich eine Wendung und zog sich in weitem Bogen um