Die Keusche. Volker Krug

Die Keusche - Volker Krug


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berauschenden Melodie. Zärtlichkeit …

      ‚… lass auch dir die Brust bewegen,

      Liebchen, höre mich!

      Bebend fahr ich dir entgegen,

      komm, beglücke mich!

      Komm, beglücke mich!‘

      Es schien ihm gar nicht bewusst, wie seltsam die Genugtuung über seine edle Tat in eine unbestimmte Sehnsucht nach diesem geheimnisvollen Mädchen übergesprungen war. Verstummendes Summen auf den Lippen, schloss er das Fenster, trocknete sich das nasse Haar, ließ sich ungehemmt lang auf die knarrende Bettstatt fallen. Augenblicklich schlief er ein.

      Der nachfolgende Morgen verhieß einen wunderbaren, gereinigten Tag. Die Sonne stieg über die Wipfel des rückwärtig gelegenen Waldes empor. Vom Weiher her zog ein zierlicher Schleier, letzter, kühlender Rest des nächtlichen Gewitters. Frische Luft zog durch die Gassen, belebtes Grün lag in den Gärten, Wiesen und Wäldern.

      Sonntag.

      Reinhard lauschte dem Gezwitscher in der Linde vor seinem Fenster. Als er sich hinauslehnte, verstummte es für kurze Zeit. Sein Blick schweifte an den mächtigen drei Kronen vorbei in die unendliche, erblauende Ferne. Flache Moränenhügel schmiegten sich an den Horizont. Davor Felder, immer wieder Felder und kleine Waldhaine, Reste vergewaltigter Auen. Einfache Zweiheit: Himmel und Erde.

      Die anderen schliefen noch, schnarchten vor sich hin.

      Er beschloss, am frühen Nachmittag hinauszuwandern in die so unvertraute Natur, hinüber in das Wäldchen, in dem er Ruhe und Entspannung zu finden hoffte, Ruhe vor jenem Geschehen, das ihn gestern Abend eingestandenermaßen aufgewühlt hatte. Um die Mittagsstunde ließ er die letzten Häuser hinter sich, die letzten äpfel- und birnenträchtigen Gärten. Er traf kaum jemanden. Alles, die Lautlosigkeit, die Natur, den ländlichen Frieden sog er in sich auf. Sonntäglich still wurde es um ihn her. Nur die Lerche, die Grille, den Frosch – nur diese verträglichen Geräusche nahm er wahr. Die wöchentliche Hast schien verbannt.

      Er lenkte seine Schritte auf diesen und jenen Weg, streifte dort am Rande eines Hains hin, mied insektenumschwirrte Tümpel und suchte zuweilen die angenehme Kühle eines dichten Waldstücks, wie es hin und wieder zwischen den Feldern verstreut lag. Er bewunderte die zahlreichen, betagten Eichen und Erlen, Eschen und Ulmen. Durch die Wipfel streute dämmernd das Licht. Auf dem Feld tauchte die Sonne Licht und Schatten in die tiefgefahrenen Rinnen des Bodens.

      Ländliche Idylle. Landschaft, die unter jedem Grashalm neue Wunder gebar.

      Leise kicherte Reinhard vor sich hin: Vorfreude auf die anstehende Heimreise? Er genoss diesen Tag gewissermaßen schon als Scheidender.

      Eine gute halbe Stunde hatte er sich schon vom Dorfe entfernt. Drüben grüßten noch die roten und grauen Dächer, der aus Feldsteinen zusammengefügte Kirchturm. Vor ihm lag ein großer Flecken urtümlichen Laubwaldes, in den ihn der schattige Weg nun führte. Bis hierher hatte er sich noch nie gewagt. Bald umfing ihn das dichte, gereifte Grün des Blattgewölbes; nirgendwo links und rechts spürte er den Griff ordnender Menschenhand. Das Unterholz wucherte, verschlang den Weg und teilte ihn in wundersame Pfade. Unbekümmertes Vogelgezwitscher drang an sein Ohr. Oh ja, hier beschirmte das Leben das Leben! Unzählige Stimmen, einziges Rauschen!

      Unvermittelt verhielt er, da seine Augen auf dem Boden suchten, vor einem verquer liegenden, modernden Baumstamm. Ein Knistern – nicht von ihm verursacht – hatte ihn gewarnt. Aufmerksam wandte er den Blick zur Seite. Hatte man ihn bemerkt? Es schien, als streifte ein Paar brauner, unsicherer Augen durch das unwegsame Gestrüpp. War sie es? Die junge Frau kam ihm unvermittelt, nur wenige Meter entfernt, auf einem Seitenpfade entgegen. Dickicht verschleierte ihm den sicheren Blick. Er konnte die Züge nicht deutlich erkennen. Sie ging vorüber und das Bild entschwand zwischen dem dichten Laub, der elastische Rücken zerfloss im Blaugrün der störrischen Zweige. Ein dunkler Schopf verlor sich in den Farbtupfern dieser Wildnis. Kein Blick zurück!

      So weitab vom Dorfe!

      Wer mochte dies sein? Wer schritt hier so einsam, so stolz und unbekümmert daher? War sie es?

      Kopfschüttelnd überstieg er den morschen Stamm und setzte den Weg gedankenverloren fort. Ohne sich recht seines Wollens bewusst zu sein, wendete er die Schritte an erstmöglicher Stelle auf jenen Pfad, den dieses rätselhafte Mädchen gegangen war. Hoffnung durchhämmerte plötzlich sein Herz. Schmetterlinge flatterten im Bauch! Er fühlte sich ertappt, da er dem Weg dieses Mädchens so unverfroren folgte. Spannung vor dem Erkennen! Nichts weiter!

      Nichts weiter?

      Hatte er nicht gestern erst dieses langweilige Leben hier verdammt? Hatte er sich nicht geschworen, keinem zweifelhaften Mädchen mehr nachzulaufen? Hatte nicht gestern erst ein solches Wesen ihn wieder sitzen lassen? Doch andererseits: Tauchte nicht dieses wundersame Geschöpf auf wie Phönix aus der Asche? Bedurfte er nicht einer Seele, die ihn tröstete?

      So schnell, wie er die junge Frau aus dem Blickfeld verloren hatte, so unvermittelt schimmerte ihr blaues Kleid plötzlich wieder zwischen den Bäumen hervor. Sie kam ihm entgegen, direkten Fußes! War sie ihm gefolgt? In seinem Kopf überschlugen sich die Vermutungen und der Wunsch auf erhoffte Entdeckung. Ja, sie war es wirklich und wahrhaftig! Große, dunkle Augen schauten ihn fragend an, Augen, die ihn auch am vergangenen Abend verwundert angesehen hatten, tief und glänzend. Eine weiße Spange schnürte den braunschwarzen Pferdeschwanz. Und ein blaues Kleid fiel ihr diesmal über die wohlgeformte Hüfte, nicht jene enge Hose.

      Reinhard fragte sich, wie diese junge Frau den Mut aufbrachte, hier allein umher zu wandeln, meilenweit entfernt vom Dorfe und nach all dem, was gestern geschehen war. Doch ehe er sich in weiteren Vermutungen erging, hatte sie sich unvermittelt auf einen Baumstamm niedergelassen. Die Begegnung schien unvermeidlich, ob sie nun gesucht und gewünscht war oder gar peinlich berührte. Wohl auch erkannte er ihre Verlegenheit. Ihr Nicken, sein Nicken … Sollte dies der ganze Gruß bleiben? Selbst ein schwaches Lächeln half nur wenig über die Verlegenheit hinweg.

      „Na …“

      „Ich …“

      Ein erleichtertes Lächeln spielte auf ihren Lippen und ihre Augenlider zogen sich um ein Blinzeln zusammen.

      „Ich wollte mich so gern bei Ihnen bedanken!“, sagte sie leise. „Welcher Zufall! Das waren doch Sie gestern Abend, nicht? Ich …“

      Reinhard nickte verlegen, biss sich auf die Lippen.

      „Sie haben mir wirklich in einer misslichen Situation beigestanden. Ich, ich bin nicht mehr sicher vor diesen Übergriffen …“

      „Sie sollten es nicht auf sich beruhen lassen“, sagte er vorwurfsvoll. Aber, mein Gott, wenn man so aussah wie sie, dachte er weiter. Diese Erhabenheit, diese Schönheit! Nein, nicht oberflächliche Wohlgestalt! Anmutige, weibliche Schönheit! Reinhards Blick hing an ihren schmalen, geschwungenen, fast schwarzen Augenbrauen, bewunderte das unverfälschte, natürliche Rot ihrer Lippen und die gerade Nase mit einem Anflug von Sommersprossen. In sanften Wellen floss das Haar über die linke Schulter. Sie zupfte, da er sein Schweigen nicht brach, verlegen an einem widerspenstigen Zweig.

      „Heute ist ein angenehmer Tag, nicht?“, stammelte er schnell.

      „Angenehmer jedenfalls als gestern“, fügte sie hinzu. Sie schaute ihm verschämt in die Augen. „Sie werden sich wundern“, sagte sie, „mich so weitab und einsam zu finden. Aber ich gehe oft und gern allein hier spazieren, eben weil ich nicht belästigt werden möchte. Hier trifft man niemanden.“

      „Bin ich niemand?“

      „Ja“, erwiderte sie leicht auflachend. „Ich kenne Sie nicht. Und dies überrascht mich keineswegs.“

      „Wissen Sie“, – noch immer trat er vor ihr unschlüssig von einem Bein auf das andere –, „als ich Sie eben hinter den Sträuchern verschwinden sah, dachte ich: ‚Orplid – mein Land, das ferne, leuchtet.’ Das blaue Mädchen. Kennen Sie das Buch?“ Sie schüttelte leicht den Kopf und wartete. „Ehm Welk“, fuhr Reinhard fort. „In jener Geschichte aus seinen Erinnerungen


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