Die letzten Kinder Bessarabiens. Neuanfang nach Krieg Flucht und Vertreibung in der DDR. Artur Weiß
mit Stolz den Schmiedeberuf erlernen. Wenn sich auch in den letzten zwei Jahren vieles in unserer Familie verbesserte, war es doch schwer für Mutter und mich, unsere Bedürfnisse aufgrund der Mangelwirtschaft zu erfüllen. Mutter arbeitete weiter bei dem Bauern für Lebensmittel und 40 Mark pro Monat und ich brachte meinen Lehrlingslohn von 60 Mark in die Familienkasse ein, damit war die Not weitgehend gebannt.
Was uns als Familie seit unserer Ankunft im Winter 1945 in Mörz stark belastet, war der Verlust unseres Vaters. Alle Versuche, ihn durch die Suchdienste zu finden, blieben erfolglos. Glück hatten Hugo und Simon, ihre Väter waren durch das Rote Kreuz gefunden worden. Dadurch waren sie als Familie besser gestellt. Wir wohnten als Familie noch immer zu fünft in einer Stube. Es machte es sich erforderlich, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. So wurde mit dem Einverständnis des Bauern die neben der Stube vorhandene Futterkammer als Wohnküche umgebaut. Von nun an hatte jeder seinen Sitzplatz am Tisch und ich zum ersten Mal mit 17 Jahren mein eigenes Bett. Mein Bruder Helmuth war nun schon 10 und Herbert 7 Jahre alt, sie brauchten sich nicht mehr das Bett teilen. So hatte nach Jahren jeder seinen eigenen Schlafplatz. Für unsere Familie war das ein kleiner, aber wichtiger Schritt nach vorn. Sogar einen Schrank für unsere Kleider konnten wir aufstellen.
Um in der Versorgung unserer Familie selbstständig zu werden, schafften wir Jungs uns Kaninchen an, um ab und an einen Braten zu haben.
Auch ergab es sich, vom Bauern ein Ferkel (Kümmerling) zu übernehmen, welches Mutter in Pflege nahm. Sie mästete es zum prächtigen Schlachtschwein. Jährlich wurden auf dem Bauernhof mehrere Schweine für all die Beschäftigten auf dem Gehöft geschlachtet. Hierbei wurde unser Schwein auch zu Fleisch und Wurst verarbeitet. Somit hatten wir als Familie eine Unabhängigkeit vom Bauern erreicht, die Futtermittel für das Schwein hatten wir zu ersetzen. Dazu gingen wir auf den abgeernteten Feldern Kartoffeln stoppeln und Getreideähren nachlesen. Diese übergaben wir dem Bauern. Nach dem Motto: „Ohne Müh ist selten Brot“ praktizierten wir diese Möglichkeit einige Jahre, weil alle mittlerweile einen guten Appetit an den Tisch brachten.
Die Ernte des Jahres 1947 war voll im Gange und die großen Schulferien hatten begonnen. Dies bedeutete für Irma das Ende ihrer Schulzeit. Schon immer hatte sie den Wunsch, Schneiderin zu werden. Jedoch war es nicht möglich, in der näheren Umgebung eine Lehrstelle für sie zu finden. Gezwungenermaßen trat sie im Frühjahr 1948 in einer kleinen Gaststätte, die auch Landwirtschaft betrieb, eine Lehrstelle als Hausmädchen an. Dort bezog sie ein Zimmer mit Vollpension und erhielt einen Lohn von 20 Mark monatlich. Leider hat die Wirtin Irma in der Vorweihnachtszeit entlassen. Den Winter verbrachte sie wieder im Kreis ihrer Familie, sie wurde dann im Frühjahr 1949 im Nachbardorf als Dienstmädchen in der Landwirtschaft tätig.
Auch dort hatte sie ein Zimmer mit Vollpension und bekam 25 Mark pro Monat. Leider wurde sie auch hier nur als Saisonarbeiterin benutzt. Daraufhin hat Mutter mit ihrem Bauern für Irma eine stundenweise Arbeit in den Morgen- und Abendstunden für die Fütterung der Tiere ausgehandelt. Dies erwies sich zunächst als gute Lösung. Im Frühjahr 1950 bekam Irma eine Festanstellung. Ihr Lohn verbesserte sich auf 60 DDR-Mark. Nun waren Mutter und Tochter für längere Zeit ein Team auf dem Bauernhof und hatten öfter für andere Dinge des Lebens Zeit. Sie nähten sich mit einer erworbenen Nähmaschine ihre Kleider selbst, diesbezüglich konnte Mutter ihrer Tochter viel beibringen.
Mittlerweile sind nun schon fast fünf Jahre in der neuen Heimat vergangen, sodass die seelischen, moralischen und traumatischen Wunden von Krieg, Flucht und Vertreibung nicht mehr so wehtaten. Es wird Zeit, rückblickend über die nur schleppende wirtschaftliche und politische Entwicklung in der russischen Zone, in der wir leben müssen, Bilanz zu ziehen.
Der Wiederaufbau des durch den Krieg zerstörten Landes wurde anfangs durch die Demontage der noch heil gebliebenen Werke durch die Russen massiv erschwert. So kam es, dass eine von den alliierten Bombenangriffen verschont gebliebene Munitionsfabrik in meinem Heimatort Belzig mit der Unterstützung der deutschen Kommunisten gesprengt wurde. Eisenbahngleise wurden landesweit demontiert, Erdkabel wurden in Fronarbeit ausgegraben, verladen und per Eisenbahn in die Sowjetunion abtransportiert. An der Erdkabelaktion musste ich als Sechzehnjähriger teilnehmen. Die Norm war: 100m mussten pro Tag mit Pickelhacke, Spaten und Schippe ausgeschachtet werden. Und dies bis zu 16 Stunden, auch alte Männer wurden zur Arbeit aufgerufen.
Ein Teil der von den Bauern eingebrachten Ernte verließ auch Richtung Osten die Zone. Das schmälerte den Speiseplan der Menschen in Stadt und Land. Auch die Industrie wurde systematisch ausgenommen. Nur ein geringer Teil vom Kuchen bekam die Industrie. Den Löwenanteil kassierten die Russen. Das dauernde Abschöpfen der Landwirtschaft und Industrie wurde zur beliebten Dauererscheinung im Herrschaftsgebiet der russischen Zone. Die von Stalin 1946 eingesetzte Regierung war ihm in jeder Hinsicht hörig, daher konnte die Ulbrichtgruppe die wahren Interessen der Bevölkerung nicht durchsetzen.
Gezwungenermaßen entwickelte sich daher die so genannte DDR nur schleppend und rutschte in eine dauernde Mangelwirtschaft ab. So blieb den Menschen die Rationalisierung der Lebensmittel noch lange erhalten.
Was unsere Familie betraf, war sie in den letzten fünf Jahren gestärkt herangewachsen und hat sich voll integriert. Mutter, Irma und ich hatten ein sicheres Einkommen, meine Brüder besuchten erfolgreich die Schule. Wir haben die große Not gemeinsam überwunden. So gesehen können wir alle vorerst zufrieden nach vorne schauen. Was uns die Zukunft noch alles bringen wird, das steht in den Sternen. Durch Umsicht, Fleiß und Sparsamkeit ist es unserer Familie gelungen, nicht mehr Hunger leiden zu müssen. Vergessen sind die Erlebnisse der vierzehntägigen Flucht von Polen nach Deutschland.
Bei -20 Grad tauten wir unser gefrorenes Brot und die Wurst am Feuer auf, ließen den Schnee schmelzen, um uns Getränke zu machen. Wir stillten unseren Heißhunger mit heißem Tee, drängten damit die Kälte aus unseren Gliedern.
Das Auftauen der Lebensmittel am Knackholzfeuer
In dieser, sich leicht normalisierenden Zeit haben wir Jugendliche schon längst die Initiative ergriffen, um unser Vergnügen voll auszukosten. Wir drei Freunde hatten dabei das Gefühl, nach erlebter Gewalt und Entbehrung, wieder wie Menschen zu leben. Kein Weg war uns zu weit, um zum Vergnügen mit unseren Fahrrädern in die Nachbardörfer zu fahren und unsere Jugend zu genießen. Auch war es normal, wie immer und überall, dass Alkohol getrunken wurde. Dieser war aber für uns fast unerschwinglich, sodass wir zur Selbsthilfe griffen. Hier erinnerte ich mich, wie unser Knecht Janek in Polen (Warthegau) mit seinem Destilliergerät aus Zuckerrüben, Kartoffeln und Roggen Schnaps gebrannt hatte. Es war für mich als angehender Schmiedegeselle kein Problem, ein solches Gerät herzustellen, obwohl mir bekannt war, dass Schwarzbrennen verboten war. Die Rohstoffe, um einen Sud herstellen zu können, waren auf dem Dorf immer erhältlich, es war uns auch bekannt, wie und wann destilliert werden kann. An einem Sonnabend wurde der erste Brennvorgang angesetzt, der sich bis spät in die Nacht hinzog. Aber es war ein voller Erfolg geworden, was sich bei uns Dreien spürbar bemerkbar machte. Das Verfahren nutzte uns, da so immer etwas Hochprozentiges vorhanden war und wir so für lange Zeit unsere eigene Quelle hatten. Mit der Zeit gelang es uns auch, aus dem Sprit mit gewissen Zutaten Liköre zu mixen, damit auch unsere Mädchen etwas zu sich nehmen konnten. An den Wochenenden waren wir drei Freunde unzertrennlich. Wenn es zu Streitigkeiten mit fremden Jungen kam, die uns unsere Mädchen ausspannen wollten, bewährte sich die Freundschaft.
An den Werktagen war ich mit Simon meist allein, weil wir denselben Weg zur Arbeit hatten. Hugo war immer noch bei seinem Bauern beschäftigt. Für Simon und mich näherte sich das Ende unserer Lehrzeit, was uns mit einem gewissen Stolz erfüllte. Es war doch eine schwere Zeit, bei gutem und schlechtem Wetter jeden Tag pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Darauf legte Meister Gottwald großen Wert. Zu ihm hatte ich von Anfang Vertrauen und eine fast väterliche Beziehung. Vielleicht lag es daran, dass bei mir die Vaterstelle verwaist war, woran der Zweite Weltkrieg die Schuld trug. In der Berufsschule wurde derzeit die Vorbereitung zur schriftlichen Gesellenprüfung