Exodus. Ben B. Black

Exodus - Ben B. Black


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zwei Augen, die von Willensstärke und wacher Intelligenz kündeten, im Moment aber in höchster Konzentration leicht zusammengekniffen waren. Der Oberkörper des Mannes wirkte kräftig, und im Sitzen sah man ihm seine Größe von fast einsfünfundneunzig nicht an.

      »Es ist eine gottverdammte Scheiße mit diesem Wetter!« Roland stand im Begriff, seine Faust auf das Lenkrad des Busses zu donnern, hielt sich aber im letzten Moment zurück, weil ihm einfiel, dass das bereits das letzte Mal zu Diskussionen geführt hatte, und dafür besaß er im Moment nicht die Nerven.

      »Soll ich noch mal übernehmen?« Gregor sah seinen Freund mit Sorge im Blick an. »Du hast schon ganz rote Augen.«

      »Weil deine ja besser aussehen …« Roland schüttelte entschieden den Kopf. »Wir brauchen dringend eine Pause, und zwar wir alle!«

      »Wenn wir eingeschneit werden, sitzen wir womöglich den Rest des Winters fest, und das war es dann.«

      »Und wenn wir den Bus schrotten, dann sitzen wir nicht nur den Winter über fest, sondern vielleicht für immer«, gab Martin zu bedenken, der dem Gespräch der beiden Freunde bislang schweigend gefolgt war.

      »Ja, genau so habe ich mir das vorgestellt.« Rolands Miene verfinsterte sich immer weiter. »Wir können uns also zwischen Pest und Cholera entscheiden, ganz so wie zu den Zeiten, als wir noch als Wahlvieh an die Urnen gehen durften, um unser Kreuzchen an einer Stelle zu machen, wo es sowieso nichts bewirkt.«

      »Wie kommst du denn jetzt darauf?«, wunderte sich Gregor. »Ich finde nicht, dass sich unsere jetzige Situation …«

      »Boar, Mann! Kannst du nicht einmal deine Klugscheißereien für dich behalten?« Roland funkelte den anderen wütend an. »Ich weiß selbst, dass das nicht zu vergleichen ist, okay? Was würde ich drum geben, jetzt gemütlich in eine Wahlkabine schlurfen zu dürfen, gefolgt von einem gepflegten Kneipenbesuch mit Weißwurst und Brezel. Manno!«

      »Vorsicht!«

      Martins Schrei gellte durch den Bus. Gleichzeitig griff Gregor beherzt ins Lenkrad und zwang das Fahrzeug, der leichten Rechtskurve zu folgen. Vor Schreck kuppelte Roland instinktiv aus. Der Bus rutschte noch ein wenig, dann stand er still.

      »Gerade noch mal Glück gehabt.« Gregor zog bleich und zitternd seine Hände vom Lenkrad zurück.

      Etwa einen Meter vom Bus entfernt fiel die Böschung steil ab. Soweit es sich bei den schlechten Sichtverhältnissen erkennen ließ, ging es dort fast zehn Meter in die Tiefe.

      »Die … die Leitplanke hätte uns doch gehalten, oder nicht?«, stotterte Martin.

      »Träum weiter!«, brummte Roland in einem Ton, als sei nichts gewesen, aber er war ebenfalls aschfahl im Gesicht geworden.

      Gregor drehte sich nach hinten. »Bei euch alles in Ordnung, Kinder?«

      »Ich … ich denke schon.« Tom, der immer noch als eine Art Sprecher oder Anführer der Kinder fungierte, nickte unsicher. »Wir haben uns erst erschrocken, als Martin geschrien hat, aber es ist ja alles noch einmal gut gegangen.«

      »So kann man das natürlich auch sehen.« Rolands Gesicht gewann langsam die Farbe zurück, während seine Miene noch grimmiger wurde, obwohl das kaum noch möglich zu sein schien. »Ich hätte uns gerade beinahe umgebracht, denn das Leitplänkelchen da vorne hat der Masse des Busses nicht das Geringste entgegenzusetzen. Was bin ich doch für ein leichtsinniger Hornochse!«

      »Ich hätte dich nicht anquatschen sollen«, widersprach Gregor gepresst. »Dann wärst du nicht abgelenkt gewesen.«

      »Und ich habe ebenfalls mein Teil dazu beigetragen«, sagte Martin. »Aber nach Schuld zu suchen bringt uns jetzt auch nicht weiter. Wir sind alle unverletzt, der Bus ist ebenfalls noch in Ordnung. Also lasst uns lieber über eine Lösung nachdenken.«

      »Da gibt es nicht viel nachzudenken«, knurrte Roland. »Mitten in der Pampa stehen bleiben können wir auf keinen Fall, und weiterfahren ist ebenfalls äußerst riskant. Wie ich schon sagte: Pest oder Cholera, sucht euch was aus.«

      »Dann lass uns wenigstens versuchen, den nächsten Parkplatz zu erreichen«, schlug Gregor vor. »Dort können wir zwei Stunden pennen und anschließend weiterfahren. Vielleicht lässt bis dahin auch das Schneetreiben ein wenig nach.«

      »Wobei wir über kurz oder lang vermutlich ein anderes Problem bekommen werden.« Nun war es an Martin, eine finstere Miene zu zeigen. »Wenn es noch ein paar Stunden so weiterschneit, werden irgendwann alle Straßen unpassierbar sein, weil sich derzeit keine Sau mehr um den Winterdienst kümmert.«

      »Tjaja, da fragt man sich in der Tat, wofür man eigentlich Steuern bezahlt«. Während er sprach, betrachtete Gregor intensiv seine Fingernägel, als ob es dort irgendetwas Interessantes zu sehen gäbe.

      »Als ob du die letzten Monate auch nur einen Cent Steuern bezahlt hättest.« Rolands Miene hellte sich auf, und sein Mund zeigte den Ansatz eines Grinsens. Offenbar hatte die Witzelei seines Freundes genau seinen Humor getroffen. »Aber mal Spaß beiseite: Mit den Schneeketten sind wir relativ gut gerüstet. Wir müssen nur aufpassen, dass wir nicht in eine größere Schneeverwehung reindonnern, dann kann eigentlich fast nichts schiefgehen.«

      »Deine Zuversicht möchte ich haben.« Martin schüttelte ungläubig den Kopf.

      »Musst du gar nicht.« Rolands Mund verzog sich nun zu einem richtigen Grinsen. »Die Rolle als Bedenkenträger steht dir viel besser zu Gesicht.«

      »Ha, ha, sehr witzig. Ich lache später.«

      »Deine Sache, aber vielleicht nicht gerade, wenn Gregor und ich unser Nickerchen halten.«

      »Dann findest du meinen Vorschlag also gut?«, erkundigte sich Gregor.

      »Nein, keineswegs. Aber haben wir eine andere Wahl?«

      ***

      Tatsächlich fanden die Pilger nur wenige Kilometer hinter der Stelle, wo der Bus beinahe von der Straße abgekommen wäre, einen Parkplatz, der sogar über ein Toilettenhäuschen verfügte.

      »Hah!«, freute sich Gregor. »Die Zivilisation hat uns wieder. Endlich mal wieder ein richtiges Klo!«

      »Freu dich bloß nicht zu früh«, mahnte Roland. »Ich kann mir irgendwie vorstellen, wie es dort drin aussieht. Da geh ich zum Kacken lieber in den Wald und pfeife auf den Sitzkomfort einer Porzellanschüssel.«

      »Ist das eure einzige Sorge?« Martin blickte entgeistert drein.

      »Ich will dir mal was sagen, mein Freund.« Roland sah den anderen leutselig an. »Ich dachte zwar, du seist inzwischen von alleine darauf gekommen, aber ich erkläre es die gerne auch ein wenig ausführlicher. Der Mensch braucht genau drei Dinge, um zu überleben: Nahrung, Wasser und einen trockenen, warmen Platz zum Schlafen. Alles, was darüber hinausgeht, ist Luxus. Gregor und ich reden also gerade über Luxus. Willst du uns dieses kleine Vergnügen jetzt auch noch nehmen?«

      »Das meine ich doch gar nicht.« Auf Martins Stirn bildete sich eine Unmutsfalte. »Meinetwegen könnt ihr euch bis an den Sankt-Nimmerleinstag Scheißhausgeschichten erzählen. Aber hat einer der Herren vielleicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass sich dort vielleicht Knirscher ›niedergelassen‹ haben könnten?«

      Statt einer Antwort wandte sich Roland den Kindern im hinteren Teil des Busses zu. »Tom?«

      »Keine Knirscher im näheren Umkreis. Und ich müsste dann auch mal Pipi.«

      »Tut, was ihr nicht lassen könnt.« Martin verdrehte schicksalsergeben die Augen. »Eine Welt, in der sich alles um Fäkalien dreht, welch ein erstrebenswerter Zustand!«

      ***

      Nachdem die diversen körperlichen Bedürfnisse befriedigt waren, machten die Pilger es sich im Bus leidlich bequem. Als der letzte von draußen zurückgekehrt war, stellte Roland den Motor ab, um Treibstoff zu sparen. So gut es ging, mummelte sich jeder in eine Decke und rutschte so dicht wie möglich an seinen Nachbarn heran.

      Es


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